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Tschuktscha ist nicht dumm

(Dem tschuktschischen Schriftsteller Juri Rytche͏̈u gewidmet)

I

„Das wird alles sehr schlecht enden,“ prophezeite mein Vater. „Kannst du dich nicht einfach krankmelden?“

„Aber sie zählen auf mich,“ sagt ich, „ich soll doch übersetzen!“ Das stimmte zwar, aber ich war auch ein bisschen neugierig auf diesen Mann aus dem hohen Norden. Wie mochte er wohl aussehen?

„Hahaha,“ lachte meine Mutter dämonisch. „Du hältst dich wohl für besonders schlau! Na, dann warte mal ab! Alle hassen Russen, alle, sogar die Russen selbst! Und von Tschuktschen fange ich gar nicht erst an!“

Tschuktschen hatten in Russland einen schweren Stand. Jeder zweite russische Witz beinhaltete den Satz: „Tschuktscha ist nicht dumm“ – und darauf folgte dann etwas vollkommen Absurdes, was Tschuktschen als naiv, gutmütig, aber auch als vollkommen unangepasst charakterisierte: „Tschuktscha, warum hast du zwei Bustickets gelöst?“ „Falls ich das eine verliere, habe ich immer noch eins.“ „Und falls du beide verlierst?“ „Tschuktscha ist nicht dumm! Tschuktscha hat ein Monatsticket …“

Natürlich wusste ich, dass diese Tschuktscha-Witze aus meiner Moskauer Kindheit nicht der Realität entsprachen. Und doch … Es sollte meine erste Begegnung mit einem waschechten Tschuktscha werden! Aufregend!

Ich nahm ihn an der Museumskasse in Empfang und führte ihn durch unsere Bochumer Eskimo!-Ausstellung. Während er sich die Exponate anschaute, betrachtete ich ihn verstohlen von der Seite. Nein, er hatte keine Pelzmütze an. Habe ich eine Pelzmütze erwartet? fragte ich mich beschämt. Hoffentlich nicht. Aber einen grauhaarigen, eleganten Herren in einem Nadelstreifenanzug und mit einer Nickelbrille auf der Nase auch nicht.

Im Vorfeld der Ausstellung hatte es unter Museumskuratoren und Pädagogen viele Diskussionen gegeben. Nicht nur die Sowjets hatten ihre Berührungsängste mit den Inuits. Auch Deutsche taten sich schwer, den stillen Genozid an den indigenen Völkern zu verbalisieren. Schon bei der Suche nach einem geeigneten Ausstellungstitel waren wir uns nicht einig: Durfte man das Wort Eskimo überhaupt noch benutzen? Und wenn man für die Ausstellung das politisch korrekte, aber damals, vor über 20 Jahren, weniger geläufige Wort Inuits verwendete, würde das Publikum überhaupt kommen?

Der Mann im Nagelstreifenanzug wirkte unbeeindruckt. Er ging am großen Banner „Eskimo! Kunst aus dem Nordpolargebiet“ vorbei, warf interessierte, aber flüchtige Blicke auf die Ausstellungsstücke – Masken, Harpunen, Messergriffe aus Wallrosselfenbein. Die letzte Stunde vor seinem Vortrag verbrachte er im Museumscafé, wo er sich genüsslich ein Stück Apfelstrudel mit Sahne einverleibte. Ich fühlte mich immer noch etwas befangen, aber auch ich bestellte mir einen Cappuccino und harrte der Dinge, die da kamen.

 

 II

Bevor ich heute Morgen zum Museum aufgebrochen war, hatte es bei uns zuhause eine Krisensitzung gegeben. „Wahrscheinlich wirst du gefeuert,“ hatte mein Vater gemutmaßt. „Mit etwas Glück nur abgemahnt. Bei mir an der Uni sind Leute wegen weniger geflogen. Wenn du mit deinen rassistischen Tschuktscha-Witzen loslegst, dann war es das.“ „Hahaha!“ hatte meine Mutter gelacht und sich auf die Schenkel geklatscht. „Das würde ich zu gern sehen!“ „Nein,“ hatte Vater gesagt. „Wir gehen nicht hin. Zu gefährlich.“

Ich hatte eigentlich nicht vor, rassistische Witze zu erzählen. Ich hatte überhaupt nicht vor, Witze zu erzählen. Mein Auftrag lautete, aus dem Russischen ins Deutsche zu übersetzen, mehr nicht. Aber weil meine Eltern alles, was ich sagte, später gegen mich verwendeten, hatte ich lieber gar nichts gesagt. Stattdessen war ich in meinen schrottigen Fiat gestiegen und ins Museum getuckert, denn dort wartete mein gefährlicher Übersetzerjob auf mich.

Während ich eine dicke Qualmwolke hinter mir herzog und meine Kontrollleuchten wie ein Weihnachtsbaum blinkten, musste ich an die vielen Witze denken, in denen Autos UND Tschuktschen gemeinsam vorkamen. Ein Klassiker: Tschuktscha fährt mit seinem Lada nach Moskau Verwandte besuchen. Er ist schnell da, doch zurück braucht er Wochen. Als er endlich vor seiner Jurte vorfährt, kommt seine Frau angerannt: „Wo bist du gewesen? Warum hast du so lange gebraucht?“ „Russisches Auto ein unpraktisches Auto,“ erklärt Tschuktscha kopfschüttelnd. „Vorwärts es hat vier Gänge, aber rückwärts nur einen.“

Auch mein italienisches Fabrikat war ein unpraktisches Auto: Man wusste nie, ob man an seinem Ziel ankommen würde. Fiat: Fehler in allen Teilen, witzelten die Deutschen. Vielleicht sollte ich dem Tschuktscha-Schriftsteller davon erzählen … Aber nein! unterbrach ich mich sofort. Ich werde keine Witze reißen! Nicht über Fiat, nicht über russische Autos und schon gar nicht über Tschuktschen. Vielmehr werde ich ernst bleiben, ernst und professionell.

Diesen Satz wiederholte ich von da an mantraartig: auf der Autofahrt, im Museum, im Museumscafé. Aber dann beugte sich der Tschuktscha-Schriftsteller über den Cafétisch herüber und raunte mir verschwörerisch zu: „Kommt ein Tschuktscha nach Moskau und nimmt sich ein Taxi.“ Er sah mich erwartungsvoll an. Ich stotterte verwirrt: „Wie, Moskau? Wieso?“ „Wieso nicht?“ gab Juri zurück (seit einer viertel Stunde durfte ich ihn beim Vornamen nennen). Er stieß seinen doppelten Espresso mit einem Schluck herunter, spülte mit einem kleinen Seltzer nach und fuhr fort: „Das Taxi fährt über die Stadtautobahn. Rechts ist ein Wald, links ist die Stadt. Plötzlich kommt aus dem Wald eine alte Oma gelaufen, mit einem Korb Pilze in der Hand. Sie versucht, die Straße zu überqueren.“ Ich runzelte die Stirn: „Ist es jetzt … eine Art Übung? Wollen wir nochmal den Ablauf durchgehen?“

Er blinzelte mich amüsiert an: „Oha. Wie lange lebst du schon in Deutschland, Katia? Wo ist dein Sinn für Humor geblieben? Ich erzähle dir gerade einen Witz.“ „Ja, aber einen … Tschuktscha-Witz?“ „Genau. Wer sollte ihn besser erzählen können als ich? Also: Der Taxi-Fahrer versucht der Oma auszuweichen. Er will sie ja nicht überfahren, nicht wahr? Er lenkt nach rechts – und die Oma springt nach rechts. Er lenkt nach links – die Oma springt nach links. Im letzten Moment gelingt es ihm, knapp an ihr vorbeizukommen. Er atmet tief durch, und plötzlich hört er einen Knall. Er schaut in den Rückspiegel und sieht die Oma am Boden liegen, die Pilze rollen über die Straße. Und der Tschuktscha grinst vom Rücksitz aus und sagt: „Russe ein schlechter Jäger. Hätte Tschuktscha die Tür nicht aufgemacht, wäre Oma zurück in den Wald gelaufen.“ Ich schluckte. Das konnte ja noch heiter werden.

 

III

„Wenn du schon unbedingt einen Tschuktscha-Witz erzählen musst, dann nimm wenigstens einen harmlosen,“ empfahl mein Vater am Telefon. „Der mit dem Bären und dem Zirkusrad ist gut. Hahaha! Kennst du den? Hahaha!“ Ich hörte meine Mutter im Hintergrund seufzen: „Ich sehe es schon kommen. Am Ende müssen wir alle das Land verlassen, wegen Volksverhetzung.“ „Deine Mutter macht sich Sorgen,“ übersetzte mein Vater. Wozu brauchte ich eigentlich Tschuktscha-Witze, wenn ich doch schon meine Eltern hatte! Mit Geschichten über sie könnte ich einen ganzen Abend füllen … Aber nein, rief ich mich sofort wieder zur Ordnung. Schluss mit Witzen, ein für alle Male! Ich werde nur übersetzen und sonst nichts!

Ich klappte mein Handy zu und ging zum Podium. Dort stand schon ein Tisch, darauf – zwei Mikrophone und davor saß vermutlich das Tschuktscha-affine Publikum, aber wegen des gleißenden Scheinwerferlichts sah ich nichts. Wahrscheinlich war es besser so.

Juri räusperte sich. „Guten Tag, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,“ sagte er in seinem weichen, melodiösen Russisch und ich übersetzte es sofort ins Deutsche, gar kein Problem. Das lief doch gut! „Man hat mich als Gastredner eingeladen,“ fuhr er fort, „weil ich eine sowjetische Eskimo-Minderheit repräsentiere und als einer der wenigen Tschuktschen so etwas wie ein Schriftsteller bin.“ Ich dachte kurz nach und übersetzte: „Als Vertreter einer sowjetischen Inuit-Minderheit befasse ich mich in meinem literarischen Werk mit der Kultur meiner Heimat.“ Was denn? Gab es beim Übersetzen keine künstlerische Freiheit mehr?

„Heute werde ich von meiner Kindheit im Hohen Norden berichten und von meiner ersten Reise nach Petersburg,“ erzählte er. „Wir Tschuktschen gelten ja in Russland als Witzfiguren. Man lacht und erzählt Anekdoten über uns Hinterwäldler.“ Ich schwieg. „Kommst du nicht mit?“ flüsterte er mir zu. „Soll ich langsamer sprechen?“ Ich schüttelte den Kopf. Wie sollte ich es politisch korrekt übersetzen? Am Ende würden meine Eltern doch noch recht behalten. „Köpfe werden rollen, Köpfe!“ hörte ich schon die hysterische Stimme meiner Mutter. Egal. Ich seufzte und übersetzte ab da Wort für Wort alles, was der Mann aus dem Tiefen Norden uns zu sagen hatte. Und wie es sich herausstellen sollte, war es eine ganze Menge.

„Während der Sowjetzeit hatten die netten Russen Mitleid mit uns Wilden,“ sagte der Mann im Nadelstreifenanzug und schlug elegant die Beine übereinander. „Man sandte aus der Moskauer Zentrale hochqualifizierte Experten zu uns. Diese hilfsbereiten Menschen hatten tausende Kilometer durch Schnee und Eis zurückgelegt, nur um uns das Geschenk ihrer Sprache und Kultur zu überbringen. Doch leider prallte ihre Weisheit an unseren verkorksten Alten ab: Weder wollten sie Russisch lernen noch überhaupt lesen oder schreiben. Es war eine verlorene Generation, für die Sowjets nicht zu gebrauchen. Aber mit uns Jungen konnte man es noch versuchen. Also wurden wir Kinder jeden Morgen mit Hundeschlitten abgeholt und zu einer Schule gefahren, die extra für uns und buchstäblich aus dem Nichts gebaut wurde.“ Hundeschlitten? dachte ich. Es klang wie in einem Märchen. Oder wie in einem … Tschuktscha-Witz? Nein, rief ich mich zu Raison, es war kein Witz! Die Geschichte war todernst!

„In der Schule unterrichtete uns eine engagierte Lehrerin aus Petersburg. Jung war sie, jung und schön, ihre Haare glänzten wie Gold, so etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen! Ich war auf der Stelle verliebt. Eines Tages, so nahm ich es mir vor, werde auch ich nach Petersburg reisen. Dort werde ich dann irgendwas studieren, wahrscheinlich Walfang, und bald würde ich genauso schlau werden wie die blonde Lehrerin. Also gab ich mir in der Schule immer sehr viel Mühe, und bald war ich der Klassenbeste.“ Während ich übersetzte, betrachtete ich verstohlen sein Gesicht. Lächelte er? Ärgerte er sich? Schwer zu sagen. Seine schmalen Augen waren weniger nach außen als vielmehr nach innen gerichtet, sein Gesicht vollkommen regungslos, wie aus Walrosselfenbein geschnitzt.

 

IV

„Die schöne blonde Lehrerin brachte uns viel Nützliches bei,“ erzählte Juri, der Tschuktscha-Schriftsteller. Ich übersetzte ins Deutsche, was mir leicht fiel, denn Juri redete langsam und benutzte einfache Worte.

„Doch ein bisschen wunderte ich mich schon,“ er schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das, was meine Oma mir erzählte, passte nicht zu dem, was in unseren russischen Schulbüchern stand. Eines Tages kam ich besonders verwirrt nach Hause. „Oma,“ sagte ich, „Unser Volk stammt doch von den Robben ab, richtig?“ „Stimmt genau,“ antwortete meine Oma, „Wir stammen von den Robben ab, und die Ewenen dort drüben stammen vom Kabeljau ab, deswegen malen sie sich diese Streifen ins Gesicht, weißt du noch?“ Ich nickte: „Ja, das weiß ich, Oma. Aber heute hat meine Lehrerin erzählt – und sie ist sehr schlau, meine Lehrerin, sie kommt nämlich aus Petersburg, - dass der Mensch in Wirklichkeit vom Affen abstammt. Vom Affen, Oma! Weißt du noch, dieses furchtbar hässliche Tier, das ich dir letztens in meinem Bio-Buch gezeigt habe? Wie kann es sein?“

Oma staunte nicht schlecht. „Das macht doch überhaupt keinen Sinn,“ meinte sie. „Bei uns in Tschukotka gibt es keine Affen, wie sollen wir also von ihnen abstammen? Glaub mir, jemand hat deine Lehrerin verschaukelt. Vielleicht sogar dieser komische Lenin – der hat auch sonst zu allem eine Meinung.“ Und ich: „Das glaube ich nicht, Oma, das würde sich keiner trauen, aus Respekt. Selbst Alyapenryn hat Respekt vor unserer Lehrerin, und er ist schon elf!“ „Und von wem hat sie dann diese Geschichte mit dem Affen?“ fragte Oma. Ich überlegte. „Ich meine, der Mann hieß Darwin,“ erinnerte ich mich. „Und er kam aus England.“

Da lächelte Oma ihr freundliches zahnloses Lächeln. „Engländer!“ sagte sie. „Jetzt verstehe ich, was los ist. Wir haben ja hier keine Engländer, also können wir nicht wissen, wie diese armen Menschen aussehen. Vielleicht stammen sie wirklich von Affen ab. Warum nicht? Schande! Es muss ein furchtbar hässliches Volk sein ... Andererseits: Was sollen sie machen? Man sucht sich seine Vorfahren nicht aus.“

Omas Erklärung leuchtete mir ein. Meine Welt blieb wie gehabt, nur gab es jetzt darin noch hässliche Engländer. Damit konnte ich leben.“ Das deutsche Publikum lachte, die Vorstellung von hässlichen Engländern gefiel ihm. Juri lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah nachdenklich zur Decke. „Doch wissen Sie, was ich mir insgeheim gewünscht habe?“ Hinter der Spiegelung seiner Brille konnte ich seine Augen nicht erkennen. „Nach der Schule wollte ich in Petersburg studieren, aus verschiedenen Gründen: hauptsächlich wegen der blonden Lehrerin, aber auch ein bisschen wegen der Literatur. Doch worauf ich zusätzlich hoffte, waren die Engländer. Denn wenn Petersburg das Fenster zu Europa sein sollte, wie Peter der Große es seinen Landsleuten vollmundig versprochen hatte, dann musste man doch durch dieses Fenster auch ein paar Engländer zu sehen bekommen, oder?“ Ich übersetzte und musste danach eine kleine Pause einlegen, bis das Publikum zu Ende gelacht und sich wieder beruhigt hatte. Juri nickte versonnen: „Zu gern hätte ich meiner Oma erzählt, wie Engländer in Wirklichkeit aussehen. Aber sie ist gestorben, bevor ich einen echten Engländer getroffen habe; bevor das Internet erfunden wurde, um nach diesen Affenengländern zu googlen. Und bevor es Menschen wie uns Tschuktschen möglich war, frei zu reisen und auch nur ein Fitzelchen von der Welt jenseits der sowjetischen Grenze zu sehen.“ Er hielt kurz inne. „Mehr dazu nach der Pause. Bis dahin können Sie meine Bücher an der Museumskasse kaufen. Gern signiere ich sie für Sie.“

Ich warf Juri einen schnellen Blick zu. Sein rhythmisches Nicken hatte etwas Buddhistisches. Das Publikum applaudierte begeistert, viele lachten immer noch. Ich hörte das Rascheln von Geldscheinen und das Klimpern von Münzen. Affenengländer … Konnte es sein, dass Juri gerade Tschuktscha-Witze zum Besten gab?

 

V

Ich saß immer noch wie gelähmt auf dem Podium, als ich ein seltsames Zischen hörte. Ich schaute hinunter und erkannte in der Sitzreihe ganz vorne meinen Vater. Er hatte den Kragen seines Trenchcoats hochgeklappt und trug eine seltsame Schiebermütze. „Psst,“ flüsterte er mir zu. „Es ist noch nicht zu spät. Hau ab, ich halte dir den Rücken frei!“ Ich tat unbeeindruckt: „Und, wie schlage ich mich so als Übersetzerin?“ fragte ich ihn stattdessen, „kann man mich gut verstehen?“ „Viel zu gut,“ seufzte er betrübt. „Was denkst du dir dabei, Tschuktschen öffentlich als Wilde zu bezeichnen?!“ „Aber ich übersetze doch nur,“ verteidigte ich mich. Mein Vater lachte bitter: „Ja klar! Und hinterher heißt es wieder, man habe jemanden aus der Moskauer Zentrale geschickt, um ethnische Minderheiten zu unterdrücken. Dabei gehören wir selbst zu einer ethnischen Minderheit! Komm, ich täusche gleich einen Schwächeanfall vor. Bis man mich reanimiert hat, bist du über alle Berge.“

Aber das ging nicht, weil Juri zurück aus der Pause war, sogar mit einem Tee und ein paar Keksen für mich, also setzten wir uns wieder an die Mikrophone, und sein Vortrag ging in die zweite Runde.

„In der Schule hatte ich einen guten Freund, Tajkygyrgyn,“ erinnerte er sich. „Die Lehrer nannten ihn Kostja. Sobald wir den Schulabschluss in der Tasche hatten, packten Kostja und ich unsere Sachen und fuhren nach Petersburg, zum Studieren. Ich muss zugeben, dass ich nie sonderlich gut in Erdkunde war und von Entfernungen nur eine vage Vorstellung hatte. Geld hatten wir auch keins, und als Transportmittel nur meinen alten Kajak. Aber Kostja meinte, dass, wenn wir immer Richtung Süden paddeln würden, wir schon irgendwann in Petersburg ankommen würden. Aber nach wochenlangem Paddeln erreichten wir nur die nächstgrößte Kleinstadt, Anadyr. Warm war es da! Warm und stickig, eine furchtbare Hitze, fast Null Grad.“ Das Publikum lachte. Mein Vater funkelte mich böse an, aber ich zückte nur mit den Schultern. Was sollte ich denn machen? War es etwa meine Geschichte?

„Wir vertäuten unseren Kajak am Ufer,“ übersetzte ich wortgetreu, „und gingen in die Stadt. Alles war voller Menschen. Und diese Häuser! Groß, eckig, bunt und mit riesigen Glasfenstern! Wir liefen ein bisschen herum, aber unsere Fellboots waren für asphaltierte Straßen nicht geeignet, und in unseren Robbenfellen kamen wir um vor Hitze. Also beschlossen wir, sie auf dem Markt zu verkaufen und uns stattdessen europäische Kleidung zu besorgen. Das taten wir auch, und uns blieb sogar ein wenig Geld übrig. Wir beschlossen, uns etwas Exotisches zu gönnen: etwas, das es bei uns zuhause nicht gab.

Wir sahen uns auf dem Markt um, aber dort war alles exotisch: Äpfel, Birnen, Karotten – so etwas kannten wir nur aus unseren russischen Mathebüchern. „Teile einen Apfel durch drei …“ Für uns Tschuktschen war ein Apfel genauso abstrakt wie die Zahl Pi. Rückblickend denke ich, dass wegen dieser realitätsfernen Obst-Aufgaben keiner von uns Mathematiker geworden ist.“ Die Zuhörer lachten inzwischen aus vollem Hals und ich lachte mit, ohne allerdings meinen Vater anzuschauen.

„Plötzlich entdeckten wir bei einem Markthändler etwas Unglaubliches,“ sagte Juri und hob gebieterisch die Hand. Der Saal verstummte. „Es war so rund und riesig wie der Globus unserer Lehrerin. Allerdings war es grün, grün gestreift. Und dafür, dass es so riesig war, war es auch noch relativ günstig, ein gutes Preis-Leistung-Verhältnis also. Wir wussten gleich: Das Ding mussten wir haben. Also fragten wir den Markthändler, was es sei. Er grinste uns frech an: „Na, Tschuktschen, habt ihr euch verlaufen?“ „Nein,“ erwiderte Kostja selbstbewusst. „Wir sind auf dem Weg nach Petersburg, zum Studieren.“ „Petersburg?“ wunderte sich der Händler, „das sind ja noch gut 6.000 Kilometer. Wie kommt ihr denn dahin?“ „Mit meinem Kajak,“ erklärte ich, und der Händler lachte so heftig, dass ihm ein Hosenknopf abplatzte. „Aber wir haben Geld!“ beeilte sich Kostja zu sagen. „Und damit wollen wir dieses Riesengemüse bezahlen. Was ist es überhaupt?“ „Eine Wassermelone,“ antwortete der Händler und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Aber was wollt ihr Tschuktschen mit einer Wassermelone? Damit kommt ihr nicht weit.“ „Wollen wir auch gar nicht,“ meinte ich trotzig. „Wir erledigen sie gleich hier, vor Ort.““

 

VI

„Sie war riesig,“ sagte Juri und umfasste mit beiden Armen seine imaginäre Wassermelone. Er hob sie aus den Knien hoch, richtete sich mit ihr langsam auf und schleppte sie ein paar Meter weiter, bis er fast stolperte und sie nur mit Mühe und Not auf dem Boden absetzte. Nun hockte er sich im Lotussitz daneben. Das Publikum kreischte vor Lachen. Einige Zuschauer waren von ihren Sitzen aufgesprungen, um der Vorführung besser folgen zu können. Mein Vater war auch aufgestanden, er kämpfte sich gerade zum Ausgang. Seine Mütze hing ihm tief im Gesicht.

„Kostja und ich wollten diesen Moment ganz für uns allein haben,“ erinnerte sich Juri. „Also zogen wir uns an den Stadtrand zurück – dahin, wo das Beringmeer die steinige Anadyr-Küste umspült. Wir setzten uns um die Wassermelone herum wie um ein Lagerfeuer, atmeten tief durch und holten unsere Robbenmesser hervor.“ Juri griff in die Innentasche seines maßgeschneiderten Jacketts und hielt plötzlich ein großes Klappmesser in der Hand. Ich erstarrte. Während er es langsam aufklappte, versuchte ich aus seinem Gesichtsausdruck schlau zu werden. Sah er mich an? Sah er mich nicht an? Ich war mir nicht sicher. Die blank polierte Klinke reflektierte das Scheinwerferlicht.

Juri setzte das Messer an die imaginäre Wassermelone an. „Wir waren nervös,“ sagte er – und ich konnte ihm gut nachfühlen. „Keiner wusste, wie der Tschuktscha-Organismus auf Wassermelonen reagierte. Wir waren nur Fisch und Robbenfleisch gewöhnt, alles, was wir kannten, kam aus dem Meer. Was, wenn unser Körper diese Erdfrucht abstoßen würde?“ Während ich übersetzte, behielt ich Juris Messer gut im Auge. Er hantierte damit sehr routiniert. Ein paar Mal warf er es in die Luft, fing es blindlings wieder auf, klappte es auf, dann wieder zu, dann wieder auf … Mir wurde ganz schwindelig davon. Es war bloß eine Requisite, redete ich mir ein, vielleicht nicht einmal echt. Er erzählte bloß eine Geschichte. Und ich übersetzte nur.

„Wir wollten auf Nummer sicher gehen,“ sagte Juri und klappte das Messer wieder auf. „Also säbelte ich eine ganz dünne Scheibe von der Wassermelone ab. Dann machte ich mit Kostja halbe-halbe, und auf Drei steckten wir unseren grünen Streifen in den Mund. Aber es passierte nichts. Und es schmeckte auch nach nichts. Der Streifen war hart, fad und machte mich wütend.“ Juris Hand krampfte um den Messergriff, ich wich intuitiv zur Seite. „Wie ärgerlich!“ rief er. „Wir hatten unser letztes Geld für dieses fade Obst ausgegeben. Was nun? Kostja und ich hielten Kriegsrat. „Pass auf,“ sagte er – von uns beiden war er der Pfiffigere. „Wir sollten jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Unsere Priorität lautet: Petersburg. Und bis dahin ist es noch ein langer Weg. Der Händler sagte: 6 Millionen Kilometer, aber lass es auch nur 600 Tausend sein, auch das ist sehr weit. Lass uns lieber das blöde Erdgemüse abstoßen und unsere Reise fortsetzen. Sicher ist sicher.“ Ich musste ihm Recht geben, auch wenn mich die Ausgabe schmerzte. Wir schleppten die Wassermelone zum Steilufer, schaukelten sie ein paar Mal hin und her und schleuderten sie ins Meer.“

Juri schwieg einen Moment. „Aber sie wollte nicht fliegen,“ sagte er schließlich. „Stattdessen plumpste sie auf die Steine und zerplatzte im flachen Wasser. Und erst da sahen wir, dass sie noch gelebt hatte! Ihr Inneres war blutrot, ihre Innereien quollen aus ihr heraus und trieben im grauen Wasser. Und dann waren da noch diese schwarzen Punkte! Eier, es waren Eier, die Wassermelone war ein Weibchen! „Kostja!“ schrie ich entsetzt, „Wir haben sie bei lebendigem Leibe gegessen! Schande! Schnell, lass uns von hier verschwinden!“ Und wir rannten zurück zum Kajak.“

Das Publikum grölte vor Lachen. Hinten, an der Ausgangstür, sah ich meinen Vater an der Wand lehnen. Er tippte etwas in sein Handy, sein Gesicht leuchtete blau. Wahrscheinlich bereitete er Mutter auf die bevorstehende Tschuktscha-Apokalypse vor.  

 

VII

„Erst spät in der Nacht erreichten wir Petersburg.“ Juri senkte dramatisch die Stimme, das Publikum lauschte gebannt. „Petersburg ist eine schöne Stadt. Es gibt dort viele Flüsse und Kanäle – sehr gut geeignet zum Kajakfahren.“ Während ich übersetzte, beobachtete ich prüfend sein Gesicht. Wollte er uns gerade weiß machen, dass er 6.000 Kilometer von Tschukotka bis nach Petersburg mit Kajak zurückgelegt hatte? Juri lächelte. Im Scheinwerferlicht wirkte sein rundes weißes Gesicht seltsam maskenhaft. Nein, ich wurde aus diesem Mann nicht schlau. Immerhin hatte er sein Klappmesser weggesteckt.

„Es war schon dunkel,“ berichtete er, „aber wir wollten keine Zeit verplempern und uns so schnell wie möglich an der Uni anmelden. Deswegen klopften wir so lange an der Pforte, bis man uns öffnete. Vor uns stand ein älterer Herr in Uniform. Seine goldenen Knöpfe und sein dicker Schlüsselbund imponierten uns. „Seien Sie gegrüßt, Herr Universitätsdirektor,“ sagte Kostja und schlug die Fersen zusammen. „Hiermit melden wir uns zum Studium an!“

Der Nachtwächter betrachtete uns prüfend: „Aha. Seid ihr Abiturienten?“ „Nein, Herr Direktor, wir sind Tschuktschen!“ antwortete Kostja und salutierte. „Okay,“ meinte der Wächter und zog die Pforte langsam, aber bestimmt vor unserer Nase zu. Uns blieb nichts anderes übrig, als auf den Steinbänken am Fluss zu übernachten. Zum Glück war es warm, es nieselte sogar.“

Das Publikum lachte und lachte, und Juri erzählte und erzählte. Es ging noch eine ganze Weile lang so weiter. Schließlich klappte er sein Buch zu, bedankte sich für die Aufmerksamkeit und läutete die letzte Signierstunde ein. Die vom Lachen vollkommen ausgelaugten Zuhörer schwankten benommen zum Verkaufsstand, wo Juris Bücher in allen Sprachen der Welt auf sie warteten – auch auf Tschuktschisch. Eine halbe Stunde später war es vorbei. Der Verkaufstisch und das Forum waren wie leergefegt. Nur Juri stand noch da, er unterhielt sich gerade mit jemandem auf Russisch. Als ich näherkam, sah ich, dass der ältere Herr im Columbo-Mantel mein Vater war. Juri winkte mich zu sich. „Katia, du hast mir ja gar nicht erzählt, dass dein Vater Mathematikprofessor ist!“ rief er aufgeregt. Mein Vater lachte: „Leider hat meine Tochter nichts von meinem Talent geerbt.“ „Dafür hat sie andere Talente,“ sagte Juri diplomatisch. „Wahrscheinlich,“ seufzte mein Vater. „Eines Tages werden wir vielleicht herausfinden, welche.“

Auf einmal klappte er seinen Columbo-Mantel auf und zauberte ein altes, ramponiertes Buch hervor. Da drauf stand Juris Name. Jetzt war es an ihm, große Augen zu machen. „Haben Sie es etwa von zuhause mitgebracht?“ wunderte er sich. „Fast,“ grinste mein Vater. „Während Ihrer Lesung habe ich meine Frau angeschrieben, und sie hat es mir zum Signieren vorbeigebracht. Ich wusste doch, dass ich Ihren Namen von irgendwoher kenne! Wären Sie so freundlich?“

Plötzlich sah ich im Augenwinkel etwas aufblitzen. Ich schaute zu Juri herüber und sah mit Entsetzen das Klappmesser in seiner Hand. Für einen Bruchteil von Sekunde dachte ich: Das war es. Die Stunde der Abrechnung ist gekommen. Aber stattdessen zauberte Juri aus seiner Jackentasche einen Bleistift hervor und machte sich dran, ihn mit seinem Messer anzuspitzen. „Tschuktscha ist nicht dumm,“ zwinkerte er mir zu. „Tschuktscha hat sein Werkzeug immer bei sich.“ Und dann nahm er meinem Vater das Buch aus der Hand und schrieb schwungvoll hinein: „Sei schnell! Schreibe deine Witze selbst, bevor andere Witze über dich machen! Herzlichst, Juri Rytche͏̈u.“

 

Nachwort

Diese Kurzgeschichte ist dem großartigen tschuktschischen Schriftsteller Juri Rytche͏̈u gewidmet. Am 16.10.2002 fand in Museum Bochum, im Rahmen der Ausstellung „Vom Zauber des Eises und der Finsternis. Ein Blick auf die Kunst der Eskimos“, eine Lesung von ihm statt. Die Geschichten über die hässlichen Engländer, die Wassermelone und die Reise nach Petersburg (zu Juris Zeit noch Leningrad) stammen im Wesentlichen aus seinem autobiografischen Roman „Alphabet meines Lebens“, von Unionsverlag herausgebracht.

Ich durfte damals als russischsprachige Museumsmitarbeiterin Juris Vortrag simultanübersetzen. Auch die Fotos der Inuit-Kunst aus dem Ausstellungskatalog des Museums stammen größtenteils von mir.

Man ahnt es schon: Nicht alles in meiner Kurzgeschichte entspricht den Tatsachen. Ein bisschen künstlerische Freiheit darf ein Übersetzer schließlich haben! Und doch ist die Geschichte zu etwa 80% wahr. Vielleicht auch mehr. Vielleicht auch weniger. Juri und ich, wir hatten es noch nie so mit Mathe.

2008 ist Juri Rytche͏̈u, wie die Tschukschen sagen, "durch die Wolken gegangen". 2011 ist in seiner Wahlheimatstadt Anadyr, dort, wo er bei seiner ersten Reise nach Petersburg dem Vergiftungstod durch Wassermelone nur knapp entkommen ist, wurde ein Denkmal für ihn errichtet. Rytchëu wird in Tschukotka als Held gefeiert, denn er hat seine Heimat in Russland und später weltweit literaturwürdig und salonfähig gemacht. Sein Denkmal hat 2011 den Platz eines anderen eingenommen: Lenin ...

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