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2023
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Drei Texte aus dem Zyklus: PETER ERKLÄRT (2023)

Im Fokus dieser bisher siebenteiligen autofiktionalen Geschichtenreihe steht Peter: ein bulgarischer Poltergeist, Künstler, Höhlenforscher, Handwerker, Held mit Stempel und Universalexperte h. c.. Die Handlung spielt in den 1990ern, im Musischen Zentrum, kurz MZ: einem Gemeinschaftsatelier der Ruhr-Uni Bochum, mit unglaublichen Menschen und einzigartiger Atmosphäre.
 

 

01: PETER ERKLÄRT: Wie man Aquatinta nicht macht

Wir standen vor einem großen Holzkasten. Ich verstand nicht alles, was der große Mann im blauen Overall zu mir sagte. Er hatte einen heftigen Akzent, lispelte und benutzte seltsame Worte. Im Wesentlichen ging es ums Drucken, gerade aber um Aquafinte. Oder Aquawinde? Aquarinde? Ich war mir nicht sicher. „Hast du Zucker?“ fragte er.

Ich stutzte: „Wie jetzt? Zucker? In diesem Moment? Nein, leider nicht.“

„Hab ich mir gedacht,“ nickte er betrübt. Dann grinste er: „Aber du weißt bestimmt, wo man Zucker kriegt?“

„Wieso?“ wunderte ich mich. „Kriegt man den nicht überall?“

„Schon. Aber um Zucker zu kaufen, man muss in einen Laden gehen und das alles.“

„Ach so.“ Ich stand immer noch auf dem Schlauch. „Und wir brauchen Zucker, weil diese Aqua… für diese Sache mit der Holzkiste, richtig?“

„Nein.“ Der Mann seufzte. „Pass auf, wir machen einen Deal. Du bringst mir ein Kilo Zucker, und ich zeige dir Aqualinde.“

„Ach, eine Linde? Es geht also um einen Baum?“

„Wieso Baum?“ Der Mann hob amüsiert eine buschige Augenbraue. „Nein, wir drucken Aqua Dings da, dafür brauchst du keinen Baum, sondern Lack. Siehst du? So! Den schmierst du hier drauf.“ Er tunkte einen Borstenpinsel in braune Farbe und klatschte sie auf eine kleine Kupferplatte. „Das musst du natürlich besser machen,“ belehrte er mich. „Langsamer. Sonst verläuft alles. Aber jetzt, pass auf, jetzt schiebst du die Platte in die Kiste und pustest.“ Er drückte ein paar Mal auf ein Balg, dessen Spitze in der Kiste steckte. „Da drin ist nämlich Staub. Harzstaub!“ Er riss die Augen auf. Ich machte ihm instinktiv nach. „Das Gepuste wirbelt den Staub auf. Erst fliegt er ein bisschen herum und dann setzt er sich auf die Platte, ganz langsam. Bei dieser Technik musst du geduldig sein, aber dafür hab ich keine Zeit.“ Er klappte die Kiste wieder auf und ließ eine weiße Staubwolke entweichen. „Das machst du auf keinen Fall so,“ sagte er. „Das nennt man Materialverschwendung. Das mag der Koch gar nicht.“

„Der Koch? Es gibt hier einen Koch?“ Plötzlich ging mir ein Licht auf: „Ach so, der Zucker ist für ihn?“

„Was? Nein, so heißt der Chef hier. Und weil Koch Chef ist, mag er Ordnung, Sauberkeit und alles, was deutsch ist, aber bei uns in Bulgarien machen wir es mehr nach Gefühl, also muss ich mich vor Koch ein bisschen verstecken.“

„Herr Koch ist hier der Chef?“ wunderte ich mich. „Der kleine Dicke, der vorhin gegangen ist? Aber was ist mit dir? Ich dachte, du bist es.“

„Ich? Chef?“ Der Mann brach in schallendes Gelächter aus. „Ha ha ha! Wenn das die anderen hören …“

Ich runzelte die Stirn: „Na … Du führst mich schon seit einer Stunde hier herum, zeigst mir alles …“

„Aber doch nur, weil ich ein netter Kerl bin!“ Er lachte immer noch. „Und weil ich mich auskenne, besonders mit Aquatinder. Pass auf, nenn mich einfach Peter, so nennen mich alle hier. Hast du denn Feuer?“

Inzwischen wusste ich Bescheid: „Du meinst, ob ich weiß, wo ich Feuer herkriege? Also, ich …“

„Nein nein, ich brauche Feuer sofort.“ Peter schnappte sich das Feuerzeug, das neben dem Gasbrenner lag. „Vorsicht, heiß,“ warnte er, drehte die Gasplatte an und hielt die Kupferplatte mit bloßen Fingern darüber. „Normalerweise musst du dafür eine Zange benutzen,“ klärte er mich auf. „Aber ich mache es so, weil es schneller geht. Außerdem bestehen meine Finger nur noch aus Muskeln und Hornhaut. Du musst wissen, ich habe früher Bergsteiger gemacht, Höhlenforscher … Aua!“ Er ließ die Platte los. Es roch verbrannt.

„Hab alles im Griff,“ beruhigte er mich, während er die Platte inspizierte. „Gut,“ sagte er schließlich. „Der Lack ist komplett verschmiert. Scheiße. Normalerweise muss er trocknen, bevor man weitermacht, aber das dauert mir zu lange.“ Er ließ die Platte in eine Fotowanne hineinplumpsen. „Das darfst du auf keinen Fall so machen. Versprich es mir! Wenn dir die Säure ins Gesicht spritzt, kriegst du Löcher in der Kleidung, Löcher in der Haut und vielleicht wirst du blind. Aber heute machen wir es nach meiner Art, heute üben wir nur. Schau.“ Gemeinsam beugten wir uns über der Wanne und sahen zu, wie sich die Flüssigkeit braun verfärbte. Bald konnte man die Platte nicht mehr sehen.

„Okay, das ist natürlich Mist,“ räumte Peter ein. „Jetzt ist die ganze Säure im Arsch, wegen des nassen Lacks. Oh Mann, die Grosse wird toben! Erzähle ihr bloß nichts davon, versprochen? Kein Wort!“ Er fischte die Platte aus der Wanne, ging zum Waschbecken und hielt sie unter den Wasserhahn. „Schau, wie schön die Harzkörner kleben!“ freute er sich. „Das ist, weil wir sie vorher angeschmolzen haben. Und jetzt hat sich die Säure zwischen die Körner gegraben, dort kann sich später die Druckfarbe absetzen und den Hintergrund schwarz machen. Aber die Punkte, die bleiben weiß. Weil sie von Harz abgedeckt waren. Dann hast du so ein Muster mit Punkten – wie bei einem körnigen Schwarz-Weiß-Foto, nur umgekehrt.“

„Und wofür war dann der Lack?“

„Um eine bestimmte Bildfläche vor Säure zu schützen. Bevor man druckt, wischt man den Lack wieder weg, und Fläche bleibt weiß. Normalerweise! Bei uns natürlich nicht.“ Peter betrachtete die Platte durch seine Lesebrille. „Unser Lack hat sich aufgelöst und schwimmt jetzt in der Säure.“

„Und was ist mit Zucker?“

„Wieso? Was ist damit?“

„Na, ich sollte doch Zucker holen.“

„Achso, das.“ Peters goldener Zahn blitzte auf, als er mir zuzwinkerte. „Nein, den Zucker brauche ich für meinen Kaffee. Ich trinke ihn gerne süß, aber Zucker ist alle.“

[Wer wirklich wissen will, wie man Aquatinta wirklich macht, folgt lieber nicht Peter, sondern diesem Link.]

02: PETER ERKLÄRT: Wie man eine Spüle nicht anschließt

(veröffentlicht in DreckSack, 10/2023)

 

 

„Ich habe kein Akzent,“ erklärte Peter. Er kniete gerade vor einer riesigen Spüle, die er vom Sperrmüll angeschleppt hatte. „Einen Sprachfehler – das ja, aber das ist etwas völlig anderes. Das kommt davon, dass meine Zunge zu groß ist für meinen Mund. Sie stößt gegen die Zähne! Mein Zahnarzt sagt, es grenzt an ein Wunder, dass man mich versteht.“

„Mal mehr, mal weniger,“ seufzte ich. Alle meine Versuche, Peters Spüle abzuwenden, waren gescheitert. „Sie ist Kunst!“ hatte er geschrien. „Wie kann man so was wegwerfen? Sie ist antik! Sie ist aus Massivmetall! Guck dir diese Emaille an! Beuys hätte dafür getötet.“

„Ja, Beuys,“ ich rollte mit den Augen „Er hatte auch Platz ohne Ende, vielleicht sogar eine Wohnküche. Aber ich habe eine Kochnische, und deine Spüle passt nicht hinein. Guck, sie steht halb im Türrahmen …“

„Ja und?“ schrie Peter empört. „Du passt doch trotzdem da durch! Glaub mir, wenn das nicht mehr der Fall sein sollte, hast du ganz andere Probleme.“

„Sie ist aber unpraktisch,“ klagte ich. „Und sie stinkt!“

„Das ist das Beste daran,“ nickte Peter zufrieden. „Sie ist einzigartig! Die Deutschen wollen alles messen und normieren. In ihrer heiligen Einbauküche muss alles 60 Zentimeter breit sein: nicht 59, nicht 61, nein, genau 60. Aber unsere Spüle, sie macht, was sie will, sie ist eine Küchenrebellin! Ich liebe sie! Pass auf, ich messe.“ Peter klappte feierlich seinen Zollstock auf und legte ihn an. „1,38!“ schrie er begeistert. „Eine vollkommen krumme Zahl! Davon kriegen Deutsche Pocken.“

„Nicht nur Deutsche,“ meinte ich, aber es war nichts zu machen.

„So,“ sagte Peter nun und kippte den Inhalt seines Werkzeugkastens auf meinen Wohnzimmerteppich. „Fangen wir an! Du musst wissen, in Bulgarien, da habe ich viel Hochbau gemacht. Und auch ein bisschen Tiefbau. Abrisse, Durchbrüche – alles, was Köpfchen erfordert. Eine Spüle ist für mich ein Kinderspiel. Wo ist bitte der Wasseranschluss?“

„Hinter der Spüle,“ sagte ich.

„Gut, dann muss ich sie kurz vorziehen,“ sagte er und zog. Und zog. Dann sagte er: „Nein. Plan B: Wir holen deine Nachbarn – die, die uns beim Hochtragen geholfen haben.“

Aber die Jungs machten uns nicht auf (ich konnte es ihnen nicht verübeln). Also erklärte Peter: „Plan B ,Teil zwei. Du kletterst auf den Herd, macht dich ganz schlank und gleitest elegant hinter die Spüle ...“

„Peter! Wie soll das gehen?“

„Gut, gut, dann ein anderer Plan B: Ich klettere IN die Spüle. Und operiere von da aus.“ Peter klaubte ein paar Zangen zusammen. „Habe ich dir schon erzählt, dass ich früher Höhlenforscher war? Ja? Na, dann weißt du, dass mir enge Räume nichts ausmachen. Spätestens jetzt bist du froh, dass die Spüle so groß ist, stimmt? Sonst hätte ich gar nicht reingepasst.“

„Sonst hätten wir sie schieben können.“

„Rede nicht so viel und gib mir lieber Licht! Ich gehe jetzt da rein.“ Während ich die Taschenlampe anknipste, quetschte er sich krächzend in die Spüle. Eine Weile passierte gar nichts.

 „Leuchte weiter rechts,“ hörte ich schließlich seine gedämpfte Stimme. „Nein, nicht ganz so weit. So. Jetzt halte die Hand ganz still. Still, habe ich gesagt!“

Dann kroch er rückwärts wieder heraus. „Die gute Nachricht zuerst,“ sagte er. „Es ist ein Standardanschluss. Aber der Anschluss sitzt zu tief. Wir müssen sägen.“

„Was?“ rief ich entsetzt.

„Ruhe!“ befahl Peter. „Wir kürzen nur den Siphon, keine Panik.“

„Hast du denn irgendwas gemessen?“ fragte ich misstrauisch. „Der Zollstock lag die ganze Zeit hier draußen.“

Peter tippte sich auf die Schläfe: „Wir Höhlenforscher haben ein fotografisches Gedächtnis.“ Er hielt den Siphon hoch und ließ ihn in der Luft rotieren. „Guck, damit kannst du nichts falsch machen. Man kann ihn zu allen Seiten drehen. Nur zu weit von der Wand darf er nicht abstehen, das ist alles.“

„Aha.“

„Es wird ein chirurgisch sauberer Eingriff,“ versprach mir Peter und hockte sich auf den Teppich. Während er drauflos sägte, regnete es Plastikkrümmel zu allen Seiten.

„So,“ verkündete er schließlich. Schweiß tropfte ihm von der Stirn. „Das muss jetzt reichen.“ Er legte sich das angesägte Rohr übers Knie und brach es energisch entzwei. „Diesen hässlichen Stummel hier stecken wir in den Abfluss, du siehst später nichts mehr davon!“ Er kniete sich hin und kroch samt Siphon in die Spüle. Erst raschelte es ein bisschen, dann wackelte es bedrohlich und dann fluchte Peter laut und ausführlich. Ich sprach zwar kein Bulgarisch, aber der Inhalt ergab sich aus dem Kontext.

„Das Rohr ist zu kurz,“ teilte er mit, als er wieder draußen stand. „Sag nichts! Ich will von deinem Zollstock nichts mehr hören. Wenn du so darauf abfährst, dann mess doch selber! Ich bin kein Sesselfurzer, ich bin ein Mann der Tat! Gib mir mal die Kneifzange.“

„Was hast du vor?“ fragte ich alarmiert.

„Wir ziehen das fehlende Stück Rohr ganz einfach aus der Wand. Nur keine Sorge! Da drin liegen hundert Kilometer Rohre, kein Mensch braucht so viel. Wir ziehen ein Stück vor ...“

„Bist du wahnsinnig?“ schrie ich. „Ich wohne hier zur Miete! Es ist Erstbezug! Ich kann nicht einfach Rohre aus der Wand ziehen, der Vermieter bringt mich um!“

„Erstens ist es kein Vermieter, sondern ein Verwalter,“ belehrte mich Peter. „Solange du deine Miete zahlst, ist ihm alles andere egal. Zweitens kenne ich mich mit Hochbau ein bisschen aus, ne? Wir klopfen etwas Putz weg – mit Gefühl natürlich und mit ganz viel Herz. Und dann kommt uns das Rohr quasi entgegen.“

03: PETER ERKLÄRT: Wie man den Stromkreis nicht schließt

„Wenn deine Küche fertig ist, koche ich dir einen Gjuwetsch,“ verkündete Peter. „Das ist Eintopf auf Bulgarisch. Es schmeckt wie ein Gedicht! Man kann nicht genug davon bekommen. Du wirst eine Portion essen, zwei Portionen essen, drei Portionen essen und dann drei Tage lang Bauchkoliken haben. Das verspreche ich dir!“

„Alles klar,“ sagte ich. „Aber heute geht es leider nicht. Der Hausmeister hat vorhin angerufen: Er muss irgendwelche dringenden Rohrprobleme lösen. Also schließt er meinen Herd heute nicht mehr an.“ Ich stand schon mal auf und stellte die Teetassen in die Spüle. Normalerweise half es. Aber diesmal blieb Peter sitzen.

„Fantastisch!“ freute er sich und rieb sich die Hände.  „Dann schließe ich deinen Herd selbst an. Und dann fahren wir einkaufen. Wir brauchen Zwiebeln, Möhren, Kartoffeln, …“

„Wie, du willst meinen Herd anschließen?“ erschrak ich. „Aber du kannst … du bist … du hast doch gar kein Werkzeug dabei!“

„Dafür hab ich Köpfchen,“ Peter wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. „Mehr braucht man im Leben nicht. Höchstens noch ein Taschenmesser.“ Er kramte in den Taschen seines Blaumanns. Es klapperte und klimperte verheißungsvoll. „Erstens musst du alles schälen,“ sagte er, während er seine Taschen durchsuchte. „Zweitens musst du alles schneiden – in Scheiben, Würfeln, Pentagramme, egal. Dann musst du alles in eine Backform schichten: zuerst Kartoffeln, dann Möhren, dann Zwiebeln und so weiter. Die Logik dabei ist: Das, was in der Erde wächst, kommt nach unten, und das, was weiter oben wächst, nach oben. Zum Schluss kippst du zwei Tomatendosen drüber … Verdammt nochmal, wo ist mein Taschenmesser?! Oder hast du vielleicht einen Schraubenzieher?“

„Nee,“ sagte ich. „Und ich finde, du sollst beim Herd lieber den Hausmeister machen lassen. Nicht dass er sich übergangen fühlt.“

„Meinst du mit Hausmeister diesen grauen Jörg?“ Peter hob skeptisch eine Augenbraue. „Den mit dem grauen Pullover, grauen Socken, grauen Haaren, alles grau? Ich bitte dich! Ich habe nichts gegen Jörg, ne? Aber er ist ein Idiot. Weißt du noch, wie er das Kellerschloss aufgebrochen hat? Nachdem ich den Kellerschlüssel verloren hab? Ich bitte dich! In der Zeit hätte ich dir das ganze Haus abgerissen! Solche Hobbykünstler kannst du bei Elektrik nicht gebrauchen!“ Peter hob mahnend den Zeigefinger. „Da hört für mich der Spaß auf, da muss ein Experte ran, allein wegen der Versicherung. Zum Glück bin ich einer. Was ich nicht alles abgeklemmt habe! Beim Abriss musst du immer erst die Stromanschlüsse abklemmen, weißt du? Habe ich dir eigentlich erzählt, dass ich früher … Ah, habe ich? Na, dann gib mal schnell die Lüsterklemmen.“

„Wie jetzt?“ stutzte ich. „Die ganz normalen Lüsterklemmen? Muss man bei Starkstrom nicht etwas anderes benutzen? Ich meine, gibt es dafür nicht sogar spezielle Abdeckkappen?“

„Ääääh,“ Peter wedelte abschätzig mit der Hand. „Hier gibt es keine klaren Vorgaben. Wenn du mich fragst, ist es so ein kulturelles Ding. Die Deutschen lieben alles, was besonders ist: Sonderschrauben, Sonderkappen, Sondermüll. Aber überleg mal, was soll schon passieren? Denkst du, dass du beim Kochen einen Stromschlag kriegst, nur weil du keine Sonderkappe draufhast?“

„Wäre möglich.“

„Quatsch! Dafür musst du dich schon ganz besonders dämlich anstellen. Erstens,“ Peter zählte an seinen wurstigen Fingern ab, „musst du den Herd von der Wand wegrücken. Zweitens musst du dich hinhocken. Und drittens musst du deine Finger in die Steckdose stecken. Warum sollte man das tun?!“ Er lachte, aber dann blieb sein Blick an der Decke hängen: „Wie? Du hast keine Deckenleuchte?“

„Noch nicht,“ sagte ich ausweichend. „Sie liegt noch im Karton. Aber das ist okay, Peter, bis Jörg kommt, habe ich meine Tischlampe …“

„Katia!“ schrie Peter entsetzt und sprang auf. „Tischlampe und Deckenleuchte, das sind zwei grundverschiedene Sachen! Tischlampe leuchtet punktuell, und das andere ist Allgemeinbeleuchtung - wie Allgemeinbildung, Allgemeinmedizin, alles Allgemeine. Du brauchst im Leben beides!“

„Peter, es ist alles in Ordnung …“

„Nichts ist in Ordnung!“ schrie er. „Du lässt dich gehen! Du vergammelst! Das kann ich nicht akzeptieren. Gib mir die Lüsterklemmen!“

Es machte keinen Sinn, mit Peter zu diskutieren. Also holte ich meinen Werkzeugkasten. „Aha?“ Er sah mich vorwurfsvoll an. „Schau, schau. Schlitz, Kreuz, alles da.“

„Hatte ich ganz vergessen,“ log ich.

„So, und wo ist deine Deckenleuchte? Hole sie! Wir hängen sie sofort auf.“

„Aber wie denn? An der Decke ist kein Haken, und eine Bohrmaschine habe ich wirklich nicht.“

„Wer braucht eine Bohrmaschine, wenn er einen Hammer hat?“ sagte Peter und spuckte sich in die Hände. Doch ein paar Minuten später sagte er: „Die Decke ist fester, als ich dachte. Wir machen es anders. Wir hängen deine Lampe einfach an das Stromkabel. Guck nicht so! Dieser IKEA-Schrott aus Papier ist leicht wie eine Feder, in China lassen sie die Dinger in der Luft herumfliegen! Mit Kerzen!“ Peter schnappte sich den Schraubenzieher und machte sich an die Arbeit. „Guck,“ sagte er schließlich zufrieden und ließ die Lampe los. Sie hing knapp einen Meter über dem Boden. „Das nenne ich Fortschritt!“ verkündete er stolz. „Du kommst nach Hause, es ist alles dunkel, also knippst du den Schalter an, und das ganze Zimmer leuchtet. Verstehst du jetzt den Unterschied zwischen Spot und Allgemeinbeleuchtung?“

„Ich kenne den Unterschied,“ seufzte ich. „Aber die Lampe hängt zu tief. Wenn ich nachts ins Bad gehe, stolpere ich drüber, und auch sonst …“

„Du bist immer nur am Meckern!“ Peter verzog das Gesicht. „Wahrscheinlich, weil du Hunger hast. Da bist du immer unerträglich. Warte mal ab, bis du von meinem Gjuwetsch probiert hast! …“ Sein Blick wanderte zur Wanduhr. „Oh,“ sagte er, „es ist schon halb acht. Um acht macht Penny zu. Lass uns schon mal losfahren, den Herd schließen wir später an. Wir brauchen Tomaten, Auberginen …“

„Oder,“ sagte ich, „ich lade dich auf einen Döner ein. Was sagst du dazu?“

„Oh, ein Döner!“ Peters Augen weiteten sich. „Da sage ich nicht nein. Ein echter Mann hat immer Hunger. Außerdem ist es eigentlich zu spät für Gjuwetsch. Du musst wissen, er braucht gut drei Stunden, bis er durchgezogen ist. Aber dann schmeckt er!“ Er küsste sich die Finger. „Einfach unglaublich! Du wirst essen und singen und Freudesprünge machen …“

„Ja ja,“ sagte ich und schob ihn Richtung Tür.

„… und die guten bulgarische Gewürze,“ hallte Peters Stimme aus dem Treppenhaus. „Süße Paprika, und Petersilie, und Salz, aber die Geheimzutat ist Pfeffer …“ Als die Haustür ins Schloss fiel, war er beim Olivenöl angelangt.

Fortsetzung folgt - aber nicht an dieser Stelle

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Drei autofiktionale Texte aus dem Zyklus: A propos Paris

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A propos Paris: Mit zweiandhalb Jahren wurde ich zu meinen Großeltern nach Paris geschickt. Meine Schwester war gerade geboren, und meine Mutter war mit zwei kleinen Kindern latent überfordert. Mein pragmatischer Vater meinte, das sei meine Chance, Französisch zu lernen. Mein strategisch denkender Opa meinte, man könne nicht früh genug mit Kunst- und Kulturstudien beginnen, und das gehe nirgendwo besser als in Paris. Meine Oma brauchte dringend eine Aufgabe, weil sie sich zuhause langweilte, aber als Diplomatengattin die Füße stillhalten sollte. Was ich selbst dazu meinte, ist nicht überliefert.

 

Ich blieb ein halbes Jahr lang in Paris. Im Nachhinein konnte mir keiner beantworten, ob es so geplant war. Überhaupt blieben viele Fragen offen. Zum Beispiel, wie es möglich war, dass mein Großvater fast vierzig Jahre lang für UNESCO arbeiten durfte, während andere Sowjetdiplomaten nach maximal fünf Jahren wieder abgezogen wurden. Und niemand konnte mir sagen, wie es für die Eltern war, ihre Zweiandhalbjährige wegzuschicken: ins Ausland, ohne Besuchsmöglichkeit, Ende offen.

Alles, was ich über diese Zeit weiß, weiß ich aus Erzählungen. Die erste Zeit sei schwierig gewesen. Ich sei sehr still gewesen, habe viel am Fenster gestanden und auf Pariser Straßen heruntergeschaut. Gelegentlich habe ich mit dem Finger auf Passanten gezeigt und gemurmelt: „Ich glaube, da

geht meine Mama. Ich glaube, da geht Oma Lusja ...“ Nach ein paar Wochen sei es besser geworden, ich habe alles aufgesogen wie ein Schwamm, mir Paris zeigen lassen, mich dabei ganz putzig an Oma geklammert und alles mit großen Kulleraugen bestaunt. Meine Großeltern fanden mich niedlich, ich sei brav und ruhig gewesen. Die Fotos aus dem Familienalbum zeigen ein ängstliches, verwirrtes Kind, nichts als „stupeur et tremblements“ (Amélie Nothomb). Als ich ein halbes Jahr später in Moskau antraf, erkannten meine Eltern mich nicht wieder. Und ich sie auch nicht.

Diese frühkindliche Paris-Erfahrung hatte mein Leben verändert. Dort wurde meine Oma zu meiner wichtigsten Bezugsperson, und das blieb sie bis zu ihrem Tod. Seitdem ist auch Paris für mich nicht einfach eine Stadt. Es ist ein Ort, an den man immer wieder hinfahren muss, um sich neu zu erfinden. Pariser Geschichten sind so phantasmagorisch, dass man sich immer aufs Neue vergewissern muss, dass es diesen mystischen Ort wirklich gibt. Und schließlich es ist ein Ort, an den man seine Liebsten hinbringen muss, zu einem lebensverändernden Initiationsritual. Danach kehren sie nie ganz zurück. Ein Stück von ihnen bleibt immer in Paris.

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A popos Paris: Als mein Urgroßvater mütterlicherseits, Amshej Nurenberg, 1910 zum ersten Mal nach Paris aufbrach, hatte er ganz große Pläne. Nach seinem Kunststudium in Odessa wollte er dort als Maler durchstarten. Er wollte Französisch lernen, Kontakte zur internationalen Kunstszene knüpfen - und schöne Pariserinnen kennenlernen. Amshej kam aus Kirovograd (Ukraine). Als Sohn eines jüdischen Fischhändlers und Ältester von zehn Geschwistern hatte er außer Ehrgeiz nichts vorzuweisen. Er hatte früh gelernt, allein zurechtzukommen, und das tat er in Paris auch.

Als erstes vernetzte er sich mit der gesamten russischsprachigen Diaspora. Dann mietete er sich im Künstlerhaus La Ruche ein: Das runde Gebäude wurde 1900 von Jean Eiffel für die Weltausstellung konzipiert, um auf drei Stockwerken denkbar spektakulär französische Weine zu präsentieren. Im Anschluss an die Ausstellung kaufte der geschäftstüchtige Bildhauer Alfred Boucher das Eiffelsche Metallgerüst, stellte es in die Passage Dantzig auf einem günstig erworbenen Grundstück auf, ließ es zu 110 Künstlerateliers umbauen und vermietete es fortan an arme Künstler. Eins dieser winzigen Ateliers teilte sich mein Urgroßvater mit Marc Chagall.

Chagall. Dieser Name fiel zuhause immer wieder, wenn von meinem Urgroßvater die Rede war. Marc und Amshej, zwei jüdische Künstler aus der osteuropäischen Provinz, die nach Paris gingen, um von dort aus die ganze Welt zu erobern. Einem der beiden war es dann tatsächlich gelungen. Ein wenig Schwund war immer dabei. Was sollte man klagen. Man traf Entscheidungen und lebte mit den Konsequenzen. Chagall blieb in Paris, während mein Urgroßvater 1913 nach Russland zurückkehrte. Mit vielen eigenen und einer Chagall-Arbeit im Gepäck. Eigentlich wollte er nur kurz nach Moskau und dann wieder zurück nach Paris, aber dann kam der Krieg, danach die Revolution, Amshej lernte die schöne Polina kennen, heiratete sie - diese Frau mit den Husky-Augen, die ich nur von Fotos kannte. An meinen Urgroßvater Amshej dagegen erinnere ich mich noch, er verstarb mit 91, als winziger Vogelmann mit zittrigen Händen und wachen Augen. Solange er lebte, hatte er gemalt, unser Haus war voller Bilder: Arbeiter auf dem Weg zur Fabrik, Bauern auf dem Feld, schöne Blumenverkäuferinnen … Als Maler mit Pariser Vergangenheit konnte er sich motivisch keine Eskapaden erlauben. In seinen Schriften verteidigte er den Impressionismus, insbesondere Pissarro, den er der Parteispitze als volksnah und proletarisch anpries. Auch Chagall hielt er stets in Ehren. Das Selbstportrait von Chagall, das einzig wirklich Wertvolle in seinem Besitz, hatte er noch in den 1960er Jahren dem Staat geschenkt. Ihm selbst waren nur noch seine Erinnerungen an Paris geblieben.

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A propos Paris: Mein Großvater mütterlicherseits, Juri Trifonow, wollte 1965 seiner schönen Frau Nina Paris zeigen. Zu dem Zeitpunkt befand sich ihre Ehe längst in einer Krise. Zum einen waren die beiden Eheleute sehr unterschiedlich: Juri war ein schweigsamer Eigenbrötler, während Nina aus einer manischen in eine depressive Phase stolperte. Zum anderen hatten sich ihre Karrieren asymmetrisch entwickelt: Als sie sich kurz nach dem Krieg im Bolschoj kennenlernten, war Nina der junge, aufkommende Star am Moskauer Opernfirmament und Juri – ein junger, erfolgsversprechender Schriftsteller. Fünfzehn Jahre später war er ein international gefeierter Autor mittleren Alters und sie – nun ja. Neue, jüngere Sängerinnen hatten sie von den großen Moskauer Bühnen verdrängt, während sie gelegentlich in der Provinz gastierte. Außerdem hatte sie es neuerdings am Herzen …

Die Reise nach Paris sollte Nina und Juri wieder zusammenbringen. Doch daraus wurde nichts. Meine Mutter erinnert sich, wie ihre Eltern aus Pais zurückgekehrt waren: Nina verheult, Juri verärgert, dazu noch ohne Koffer, denn ihr Gepäck wurde am Moskauer Flughafen konfisziert. Man vermutete darin Dissidenten-Unterlagen. Gefunden wurde aber nur ein neuer Mohaire-Pullover für das einzige Kind des streitlustigen Paares: meine Mutter Olga.

Ein Jahr später fuhr Nina ans Baltische Meer. Sie wollte allein sein, zur Ruhe kommen. Aber sie kehrte nicht zurück. Das Herz, hieß es. In der Moskauer Wohnung klingelte an einem Septembermorgen das Telefon, Juri nahm ab. Als die 14jährige Olga von der Schule nach Hause kam, war keiner da. Erst abends erfuhr sie, dass ihr Vater nach Litauen geflogen war, um den Leichnam ihrer Mutter in Empfang zu nehmen. Sie wurde 42. Was sich damals in dieser Ferienwohnung am Meer wirklich abgespielt hatte, beschäftigt die Familie bis heute.

Zehn Jahre später fuhr Juri wieder nach Paris. Diesmal fuhr er allein. Er wollte seinen Verleger treffen, seine Übersetzerin – und Marc Chagall. Chagall. Die Eltern seiner verstorbenen Frau Nina sprachen von nichts anderem. Sie wiederholten diesen Namen mantraartig, Chagall, Chagall, Amshej und Chagall, beide mit dem Kopf in den Wolken und voller Ideale. Mehr brauchten sie auch nicht, sie lebten von Luft und Liebe und für die Kunst.

Wahrscheinlich waren Juri diese verklärten Paris-Erzählungen wahnsinnig auf die Nerven gegangen. In jeder von ihnen steckte eine Giftnadel: Juri habe nicht aufgepasst. Er habe sich nicht gekümmert. Er habe das ihm anvertraute Juwel verloren: Amshejs und Polinas innig geliebte Tochter Nina. Er habe ihr Talent erstickt! Ihr das Herz gebrochen! Sie in den Tod getrieben! So sah es jedenfalls Polina, und sie wurde nicht müde, ihre Enkeltochter gegen Juri aufzuhetzen und ihn mit Hassbriefen zu bombardieren. Aus einer ätherischen Schönheit der Pariser Jahre war eine verbitterte alte Frau geworden.

In seiner Novelle „Besuch bei Marc Chagall“ beschreibt Juri sein Treffen mit dem großen Meister. Der über 90jährige Chagall sei gebrechlich, aber hellwach gewesen. Er habe sich an alle historischen Begegnungen und Namen erinnert, doch das Einzige, was ihn dabei interessiert habe, sei die Frage gewesen: Und, ist er schon tot? Ja, sie waren alle tot, seine Mitstreiter der ersten Stunde. Er hatte sie alle um Längen überlebt.

 

Und dann, mitten in seiner dahinplätschernden Chagall-Kurzgeschichte, lässt Juri plötzlich einen erschütternden Satz fallen: „Ich war mit seiner [Amshejs] Tochter verheiratet gewesen,“ schreibt er lapidar. „Wir haben fünfzehn Jahre zusammengelebt, bis zu ihrem plötzlichen Tod während ihrer Kur in Litauen, dort war sie hingerast, keiner weiß wozu.“ Kein weiteres Wort über die große Liebe seines Lebens, kein Wort über seine Tochter, die mit vierzehn zur Halbwaisen wurde. Und auch nichts darüber, wie es ihm selbst damit ergangen war. Hingerast. Keiner weiß wozu. Nach diesem Satz schreibt Juri über den letzten Überlebenden weiter. Und wir bleiben mit diesem Satz zurück und müssen damit umgehen – allein.

Nina Nelina und Juri Trifonow, 1950er bei Moskau

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