top of page

Neue Worte

2022-2023
IMG_20221002_191333_02.jpg

Worte, die du schon gesagt hast

Überall sind Menschen, die Worte sagen, die du schon gehört hast, an anderen Tagen, an anderen Orten. Sie sagen Worte, die du schon gesagt hast, zu früheren Zeiten, zu anderen Menschen. Du hörst, wie sie streiten, wie sie sich vertragen und wie sie beim Bäcker dasselbe bestellen: Zwei Hörnchen, drei Schnecken, ein Amerikaner, du siehst, wie sie rennen zu Bushaltestellen, den Bus verpassen, sich Looser nennen, du siehst, wie sie lachen und Witze machen, dieselben Witze auf fremde Kosten, nur sind es jetzt andere Fremde, nicht deine, nur nannte man Looser früher Pfosten.

Dieselben Worte an anderen Tagen, pro Hauptgericht immer zwei Beilagen, du hörst, wie sie klagen, einander bedauern, wie sie die Panade des Schnitzels zerkauen, Entscheidungen treffen und wieder vertagen, wie sie sich bemühen und trotzdem versagen, du siehst, wie sie sparen und alles verprassen, wie sie ihre Fristen verstreichen lassen, wie sie sich verlieben, verlieren, verlassen, wie sie ihre Kurzstreckenflüge verpassen, wie sie ihre Fernreisebusse besteigen, um sich dann woanders hängen zu lassen,

Zwei Latte Macchiato, ein Leitungswasser. Du hörst sie dieselben Worte sagen, an anderen Orten, an anderen Tagen, die hohen Decken, der kleine Garten, sie denken in Baggern, Hängern und Spaten, du hörst, wie sie planen, als sei es für immer, ein Carport, zwei Bäder, drei Kinderzimmer. Mit Partnern, die du schon vor Jahren verlassen hast, zeugen sie Kinder, die du schon gehabt hast, kaufen sie Häuser, die du schon besessen hast, mehrfach gestrichen, saniert und verkauft hast. Du hattest das alles, und dann wieder nicht.

Ein kleiner Salat und ein Tagesgericht, sie reden in langen verschachtelten Sätzen von Camping-, Bestattungs- und Ausbildungsplätzen, von Treppenliftkosten für Eltern, die altern, Patientenverfügungen nicht unterschreiben und alles besser zu wissen meinen,  ihr Wortschatz wird größer, ihr Freundeskreis kleiner, sie reden von Chefs und Kollegen, die irren, von Kindern, die Falsches nicht richtig studieren, ihr Konto belasten und prokrastinieren, nur sind es jetzt fremde Probleme, nicht ihre, dieselben Probleme zu anderen Zeiten,

 

Dieselben Gespräche an anderen Orten. Draußen nur Kännchen und Stachelbeertorte, du siehst, wie zwei Glatzen, glänzend und schwitzend, drei Echthaarperücken umständlich bezirzen, du hörst ihr asthmatisches Röcheln und Prahlen, wo sie schon mal waren und was sie besitzen, und was ihre Kinder an Posten bekleiden, in Princeton, in Brüssel, in Frankfurt am Main, ist das also unsere Lebensmatrize, wirst du eines Tages genauso da sitzen, den Anschein wahren, die Lippen spitzen zu feucht vorgetragenen Altherrenwitzen, erst Gabel, dann Löffel, dann Trinkhalm benutzen, Kartoffelpüree und passierte Grütze, an Worte denken, die du schon gesagt hast an Tagen, an denen du wirklich gelebt hast zu Menschen, die du mal geliebt, mal gehasst hast zu Zeiten, als du ihre Namen noch wusstest und Worte problemlos zu Sätzen verknüpftest, zu Sätzen, die bleiben bei Menschen, die gehen, an Orte, wo ähnliche Dinge geschehen.

Früher Vogel von morgen

 

Ich schlage die Augen auf: peng, wach

Die Zündschnur brennt

Da-da, da-da, pumpt mein Herz

Dusche, Fön, angezogen

Kaffee check, Radio check, die Pfanne zischt,

Rührei, ich komme

Ein legendärer Tag bricht ein

Großes wird heute geschehen, ich spür‘ es

Das Geschirr von gestern fliegt in die Spüle

Wasser drüber, ein wenig Spüli

Was kümmert mich noch mein Abwasch von gestern,

Bin ich doch der frühe Vogel von morgen

Der Countdown läuft. Der Toaster schießt

Zwei Senkrechtstarter im hohen Bogen

Ich sprinte los und schnappe sie mir

Eine Handbreit nur über dem Boden

Und peng, den Kühlschrank im Flug geknackt

Mit der bloßen Kraft meines Ellenbogen

Caramba, die reinste Kirche darin

Nichts als Licht und Leere, ungelogen

Aber Milch – nope, Eiere – nope, Käse, Wurst – Fehlanzeige

Egal, der schwarze Kaffee muss reichen

Die Zunge brennt, die Kehle brennt

Der Magen steht in Flammen, Amen

Und so geht sie dahin, die leere Tasse,

Zu den eingeweichten Tellerkarkassen

bottom of page