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2025
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MOSKAU - PARIS - MOSKAU

(autofiktionale Texte, die zwischen Moskau und Paris in den 1980ern spielen)

Omas Visionen​

Die Geschenke meiner Oma waren Visionen. „Ich habe einen Rock für dich“, meinte sie zum Beispiel und raschelte verheißungsvoll in ihren Tüten. „Damit wirst du aussehen wie eine echte Pariserin! Ich habe diesen Rock auf einer Schaufensterpuppe gesehen, in der Nähe des Boulevard Barbès – das ist die Modehochburg von Paris, musst du wissen, – und da habe ich gleich gewusst, dass ich ihn für dich haben muss. Er ist zeitlos elegant und passt zu allem. Du kannst ihn mit Rot kombinieren, mit Gelb, Blau …“ Ich sah in Omas Augen, wie sie mich sah: Pagenschnitt, schwarze Lackschuhe, die Sohlen machten „klick, klack“ auf den Trottoirs, und ich lief Rue Bonaparte herunter, ich lief …

„Stopp,“ sagte ich. „Dieser Rock ist ja grün!“ „Es ist nicht einfach Grün, es ist Grasgrün“, präzisierte Oma und warf mir einen warnenden Blick zu: Überleg dir, was du sagst. „Grasgrün ist eine ganz besondere Farbe, sie passt zu allem.“ „Wirklich?“ Ich war zwar erst zehn, aber ich war mir da nicht so sicher. „Wirklich,“ meinte Oma. „Oder kannst du mir eine Blume nennen, die nicht zu Grasgrün passt?“ „Ja gut,“ nickte ich. „Aber dieser Rock … er ist kariert, und … ich weiß nicht … das sind ganz schön große Karos …“ Vor meinem inneren Auge sah ich mich in diesem Rock auf die Moskauer Straßen treten: Die schmutzigen Schneehaufen türmen sich rechts und links türmen, Passanten eilen in Filzstiefeln und Gummigaloschen an mir vorbei, im ewigen Halbdunkeln des russischen Winters, die Wege vereist, die Gesichter gerötet, und wenn ich dann noch Omas Lackschuhe anhätte …

 

Oma seufzte. „Pass auf,“ sagte sie. „Das hier, das sind keine Karos.“ „Ach nein? Sie sehen aber aus wie …“ „Nein“, schnitt mir Oma das Wort. „Das sind Schottenmuster.“ „Oh.“ „Ja. Und Schottenmuster sind etwas vollkommen anderes. Sie stehen für Kultur, für eine Jahrtausende alte Modetradition, und eben deswegen passen sie zu allem.“ „Hm,“ sagte ich. Erst neulich war ich im Zirkus gewesen, und der Clown dort (wie hieß er gleich?) hatte auch diese Schottenmuster getragen, aber als Hose – und übrigens dieselben schwarzen Lackschuhe, die Oma mir bei ihrem letzten Besuch mitgebracht hatte. Auch drei Nummern zu groß.

 

„Außerdem werden Schottenröcke nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern getragen“, sagte Oma. Wie bitte? Ich sah sie entsetzt an. „Das ist in Europa eben so,“ behauptete sie, aber sie neigte generell zu Übertreibungen, das konnte gar nicht stimmen. „Daran erkennst du übrigens, dass Schottenröcke zu allem passen,“ meinte sie, „sogar zu Männern. Was machst du überhaupt für ein Gesicht? Die ganze Welt liebt Schottenröcke – ich meine, die ganze kultivierte Welt.“ Sie warf mir einen schnellen Blick zu.

 

Ja, klar wollte ich auch dazu gehören. Aber nicht um jeden Preis! Oma lebte in Paris, da galten scheinbar andere Regeln, vielleicht hatten Clowns dort einen anderen Stellenwert. Aber bei uns in Moskau, da war es strategisch günstiger, nicht wie ein Clown auszusehen – was ich Oma allerdings unmöglich sagen konnte, also fragte ich lieber: „Und was ist mit dieser Brosche? Trägt man das so in Paris?“ „Das ist keine Brosche, das ist eine Kiltnadel,“ erklärte Oma, und dafür liebte ich sie: Sie kannte ganz viele exotische Wörter und hatte eine Antwort auf alles. „Guck,“ sagte sie, „diese Nadel hält den Rock zusammen, denn er ist zu einer Seite offen.“ Wie bitte? Zu einer Seite offen? Schlagartig fiel mir der Name des Clowns wieder ein: Popow hieß er, und er konnte einen Teller auf der Nase balancieren.

 

„…und dann, im nächsten Sommer,“ hörte ich Oma erzählen, „kommst du uns wieder in Paris besuchen, und dann ziehst du diesen Rock an und dazu eine weiße Bluse – Weiß wirkt immer frisch, musst du wissen, man sollte immer etwas Weißes tragen, – und dann gehen wir im Jardin de Luxembourg spazieren. Die Sonne wird durch das Platanenlaub scheinen, und du wirst auf einem Pony reiten, und Opa wird Fotos von dir machen, und wir werden diese Fotos deinen Eltern nach Moskau schicken, und sie werden ganz entzückt sein, dich in deinem Schottenrock zu sehen, so mondän und elegant wie eine echte Pariserin!“

Ich seufzte. Oma hatte eine vollkommen falsche Vorstellung davon, was man in Moskau entzückend fand und was nicht. Aber ich hielt lieber den Mund, denn wenn Oma ihre Visionen hatte, sollte man ihr nicht widersprechen. „Und würden wir danach Eis essen gehen, so wie immer?“, fragte ich sie stattdessen, und Omas Augen leuchteten auf. „Aber natürlich,“ sagte sie und streichelte mir über den Kopf. „Klar werden wir Eis essen gehen, deine Lieblingssorte noisette.“ Und obwohl noisette Omas Lieblingssorte war und meine Schokolade, widersprach ich ihr nicht und lächelte zurück. Solange Omas Augen leuchteten, war mir jedes Eis recht.

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MOSKAU - PARIS - MOSKAU

I
„Euer Vater hat angerufen,“ sagte Baba Zoya zu meiner kleinen Schwester und mir. „Er kommt morgen aus Moskau vorbei, mit dem Taxi, und dann fährt er mit euch direkt zum Flughafen. Also geht am besten sofort packen! Nicht, dass er mit euch schimpft.“
„Morgen?“, wunderte ich mich. „Aber er hat doch gesagt, in zwei Wochen?“
„Ja,“ sagte Baba Zoya, „und diese zwei Wochen sind jetzt um.“

Mist. Das warf meine ganzen Pläne durcheinander. Erst gestern hatte ich Gurken ausgesät, jetzt mussten sie eigentlich ständig gegossen werden. Und dann gab es bei den Blagois schon wieder Kätzchen, und außerdem arbeitete ich gerade an einer komplizierten Regenwurmplantage, für die ich kleine Flüsse und einen Teich anlegen musste. Ich hatte wirklich viel zu tun.

Aber Baba Zoya hatte dafür kein Ohr. „Beeilt euch, husch, husch!“, schimpfte sie. Sie wurde immer ganz hektisch, wenn meine Eltern sich ankündigten. Ansonsten war sie eher ruhig: Sie konnte den ganzen Tag in der Küche sitzen, Tee trinken und Karten legen. Währenddessen flitzten wir nassgeschwitzt durch die Siedlung, sammelten Pilze, fuhren Fahrrad, gingen im Fluss schwimmen oder bauten an unserer Weltraumrakete, die im Wald stationiert war. Bei uns war immer was los.

Schon vor Jahren hatten wir uns mit Baba Zoya stillschweigend darauf geeinigt, dass sie auf uns nicht aufzupassen braucht. Wir waren schließlich schon groß: Selbst meine kleine Schwester war inzwischen acht, und ich sogar zwei Jahre älter. Meine Eltern wollten das natürlich nicht wahrhaben. Sie behandelten uns immer noch wie Babys und setzten uns mit ihrer ständigen Anwesenheit mächtig unter Druck. Aber zum Glück mussten sie im Sommer ganz normal weiterarbeiten, während wir drei Monate am Stück Ferien hatten. Also blieben unsere Eltern in der Stadt, und wir lebten für uns allein auf der Datscha. Gut, Baba Zoya war auch noch da, aber sie zählte nicht. Herrlich war das! Wir hatten den Spaß unseres Lebens! Und jetzt das.

„Wo sind denn eure ganzen Anziehsachen?“, schimpfte Baba Zoya. Sie kniete sich krächzend hin, um unter dem Bett nachzuschauen. „Habt ihr denn keine Schuhe mehr?“ Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich zuletzt Schuhe angehabt hatte. Das musste Wochen her gewesen sein, bei unserer Ankunft. Wir waren gleich zum Fluss gelaufen, hatten dort Maxim und Anja getroffen, waren zur Insel hinausgeschwommen, dann zurück … Was dann geschah, wusste ich nicht mehr so genau, aber ganz sicher waren wir ohne Schuhe zurückgekommen. Wahrscheinlich standen sie immer noch da.

„Grundgütiger!“, klagte Baba Zoya. „Keine Schuhe! Was werden eure Eltern dazu sagen?“ Sie raffte unsere Kleider zusammen – sie lagen überall im Kinderzimmer verstreut und auch ein bisschen im Flur. „Und Hosen? Ai, ai, ai, habt ihr etwa keine sauberen Hosen mehr? Und wie wollt ihr überhaupt nach Paris fahren? Schnell, packt mal mit an! Wir müssen sofort Wäsche machen! Und dann hängen wir sie in die Sonne. Mit etwas Glück ist sie morgen trocken.“

Dann sah Baba Zoya meine Schwester an. „Sag mal, wann hast du zuletzt geduscht?“, fragte sie alarmiert. Aber meine Schwester zuckte nur mit den Schultern: „Weiß nicht. Vielleicht, als wir die Eier gefärbt haben? Als ich so bunt wurde?“
„Um Gottes Willen!“ Baba Zoya schlug sich die Hände über dem Kopf. „Das war doch Ostern! Und wir haben Juni! … Nein, das kann gar nicht sein, da verwechselt du was. Und was ist mit dir?“ Sie sah mich scharf an. „Was ist schon wieder mit deinen Haaren?“

Ich betastete besorgt meinen Kopf: „Wieso? Was ist mit denen?“
„Na, sie sind ja wieder richtig lang!“, rief Baba Zoya erschrocken. „Vereinbart war Bob, aber das ist kein Bob! Och, och, och!“ Sie ließ sich ermattet aufs Bett fallen. So viel Bewegung am Stück tat ihr nicht gut. „Was mache ich nur mit euch? Frisör macht erst am Dienstag wieder auf. Na wartet! Wenn euer Vater morgen da ist, zieht er euch die Ohren lang!“

Meine Schwester schluchzte schon mal vor, damit hatte sie schon immer gute Erfahrungen gemacht. Aber ich musste vernünftig bleiben, ich war schließlich die Ältere. Außerdem fand ich, dass Baba Zoya ganz schön übertrieb: So schlimm war es doch gar nicht! Wen interessierten bitte Haare? Mal waren sie kurz, mal waren sie lang, das war nun mal der Lauf der Dinge. Meine Regenwurmplantage hingegen baute sich nicht von alleine! Doch davon hatte Baba Zoya natürlich keine Ahnung.

 

II

Als wir am nächsten Tag total abgehetzt am Flughafen ankamen und zum Check-In rannten, war ich gedanklich zu 80 Prozent bei meinen Regenwürmern und zu 20 Prozent bei den Katzenbabys. Aber unser Vater war gedanklich schon zu 100 Prozent bei seinen Eltern in Paris – und das, obwohl er gar nicht mitflog. „Passt auf,“ hechelte er, während er unseren Koffer aufs Rollband hievte, „die Großeltern sind schon alt. Ihr dürft sie nicht aufregen. Erzählt ihnen also nur das Nötigste! Je weniger sie über unser Leben in Moskau wissen, desto besser!“ „Und was ist mit meiner Regenwurmplantage?“, erkundigte ich mich. „Sie ist gar nicht in Moskau. Darf ich das erzählen?“

Vater warf mir über seine Sonnenbrille einen warnenden Blick zu. Immer, wenn er am Vorabend gefeiert hatte, musste er diese Brille tragen, das war etwas Medizinisches. „Regenwurmplantage?“, sagte er. „Nein, auf keinen Fall. Sonst denken sie, wir lassen euch verwildern. Schlimm genug, wie ihr schon wieder angezogen seid! Und erzählt bloß nichts über die Feier bei den Rosows! Und nichts über den Streit mit den Nachbarn! Und wie eure Mutter neulich eskaliert ist … Moment mal!“ Er setzte erschrocken seine Sonnenbrille ab: „Was um alles in der Welt ist mit euren Haaren passiert?“ Schon wieder diese Haare! Was hatten Erwachsene nur damit? „Alles gut, Papa,“ beruhigte ich ihn, „jetzt sind sie wieder kurz.“

„Kurz?! Das nennst du kurz? Und warum sind sie so schief? Wer hat sie geschnitten, Baba Zoya?“

Meine Schwester und ich wechselten Blicke. „Nein, nein,“ schwindelte ich, „das war Andrej.“ „Genau!“, sprang mir meine Schwester bei. „Andrei wird ja später Arzt, deswegen hat er diesen Doktorkoffer, und da ist extra eine Schere drin. Für Notfälle.“

„Eine Schere? Für Notfälle?“ Vater holte schon zu einem seiner ewig langen Selbstgespräche aus, aber dann machte er den Mund wieder zu und musterte ganz konzentriert meine Schwester. Dann leckte er an seinem Finger und fuhr damit über ihren Hals. Die Spur, die sein Finger hinterließ, war weiß.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein!“, rief Vater. „Wie dreckig seid ihr eigentlich?!“ Ich sah meine Schwester mitfühlend an: Sie war so stolz auf ihre Sonnenbräune gewesen! Vater wollte noch mehr dazu sagen, aber das ging gerade nicht: Wir standen schon am Schalter.

„Wie süß!“, zwitscherte die grell geschminkte Dame hinterm Tresen. „Und ihr zwei kleinen Zuckerpuppen fliegt nach Paris? Ganz allein? Und wen besucht ihr da, wenn ich fragen darf? …“

„Folgendes,“ unterbrach sie Vater – wenn er seine Sonnenbrille trug, war er besonders kurz angebunden, selbst bei Frauen. „Wieviel Zeit haben wir eigentlich noch bis zum Boarding?“

Die Dame lächelte gekünstelt: „Zehn Minuten noch. Sie können sich also in Ruhe von ihren Mädchen verabschieden. Und machen Sie sich keine Sorgen! Begleitetes Fliegen wird bei uns großgeschrieben. Wir haben Buntstifte und Spielzeug an Bord. Ihre kleinen Prinzessinnen werden sich prächtig amüsieren!“ „Darauf wette ich,“ knurrte Vater. Er stopfte unsere Pässe in meinen Rucksack, packte uns beide an den Händen und zerrte uns zur Flughafentoilette.

Hopp, hopp – setzte er uns auf den langen Waschtisch, krempelte die Ärmel hoch und klappte seinen Aktenkoffer auf. Ich dachte immer, dass er irgendwelche langweiligen Mappen darin transportierte, aber nein. Stattdessen sah ich eine rosafarbene Sektflasche hin und her rollen, daneben eine Schachtel Pralinen, und darunter lugte etwas Buntes hervor, wahrscheinlich ein Geschenk. Ich hätte Vater gern gefragt, für wen dieses Geschenk gedacht war, aber das war gerade kein günstiger Zeitpunkt: Er war eh schon auf Hundertachtzig.

„Ihr macht mich wahnsinnig!“, zeterte er. „Verdreckt wie Schweine! Frisiert mit einer Gartenschere! Was sollen meine Eltern von euch denken?“ Er holte aus dem Aktenkoffer eine große Schere und machte sich ans Werk. (Drei Stunden später sollte Oma in Paris ausrufen: „Um Gottes Willen! Wer hat euch so verunstaltet?“). Und dann seufzte Vater, seifte sich die Arme bis zum Ellenbogen ein und schrubbte am Hals meiner Schwester so lange, bis der Schaum, der von seinen Unterarmen auf die Fliesen tropfte, weiß wie Zuckerwatte war.

 

III

Als ich die Augen aufmachte, wusste ich im ersten Moment nicht, wo ich war. Das Licht war anders, das Bett war anders, und die Wand befand sich rechts und nicht links. Aber dann erinnerte ich mich, dass ich in Paris war, bei den Großeltern. Wow! Paris! Ich sprang sofort auf und rannte zu meiner Schwester. Sie schlief im Bett nebenan, ganz fest, sie schnarchte sogar. „Wach auf!“, rief ich und rüttelte an ihrer Schulter, „Wir sind da! In Paris! Oder willst du etwa alles verschlafen?“ Aber meine Schwester brummte nur etwas und drehte sich zur Wand. Von mir aus! Dann würde ich Paris eben allein angucken.

Gut, gestern hatten wir auch schon ein bisschen gelinst: erst aus dem Flugzeug und dann aus Opas Auto. Aber es war schon dunkel gewesen, man hatte nur die kleinen Lichter gesehen, die am Auto vorbeiflogen, mehr nicht. Außerdem war mir schlecht gewesen. Denn in Paris fahren alle Autos im Kreis, und immer nur im Uhrzeigesinn, wie auf Karussell. Dabei weiß jedes Kind, dass man die Richtung wechseln muss, wenn man sich dreht! Aber Opa wollte nichts davon hören. Überhaupt fand er alles witzig, was ich sagte. Das ist bei alten Leuten so, sie nehmen uns nicht ernst.

Aber ich will sie nicht grundsätzlich verurteilen. Alte Leute haben ihre Stärken. Zum Beispiel schleppen sie Dinge mit, die kein Mensch braucht, dann aber plötzlich doch. Oma zum Beispiel: In ihrer Handtasche hat sie haufenweise Plastiktüten. Wer braucht so was? Aber dann wird einem schlecht, weil er sich immer im Kreis drehen muss, und dann sind Plastiktüten doch ganz nützlich.

Ich ging zum Fenster, schob die Vorhänge auseinander und guckte raus. Tatsächlich. Paris. Ich hatte es mir nicht bloß eingebildet, das hier war wirklich echt. Unglaublich! Unten auf der Straße konnte ich ganz viele Menschen erkennen. Sie rannten alle irgendwohin, guckten nicht rechts und links, für sie war es normal, in Paris zu sein. Vielleicht nervte es sie sogar, jeden Tag Metro fahren zu müssen, einkaufen zu gehen oder in die Schule. Aber für mich war das eine große Sache, einfach so zum Fenster zu gehen und auf Paris zu gucken: auf alte Häuser aus Stein mit ihren angetäuschten Balkons und Pfifferling-Schornsteinen; auf dicke Bäume, deren Rinde sich ständig pellte; auf die vielen bunten Lichter, die überall blinkten und flimmerten: das grüne Kreuz der Apotheke, das rote M der Metro, „Boulangerie“ in Schreibschrift ... Bei uns in Moskau leuchtete nichts, und an bunten Lichtern gab es nur die Ampel.

In der Küche tat sich was. Ich hörte Omas Stimme und Geschirrklappern, also ging ich da hin. Oma stand an der Spüle und schälte Kartoffeln. Opa sah man nicht, weil er sich hinter seiner Zeitung versteckt hatte. „Le Monde“ stand drauf – und ungefähr so groß war die Zeitung auch. Ich muss dazu erklären, dass „Le Monde“ auf Französisch „die Welt“ heißt. Ich wusste das, weil ich schon öfter Mal in Paris war und fast fließend Französisch sprach. Außerdem hatte Opa es mir erklärt.

„Guten Morgen,“ sagte ich. Oma drehte sich zu mir um und tat so, als hätte sie sich zu Tode erschreckt: „Oh mein Gott!“, rief sie. „Wer ist diese junge Dame in unserer Wohnung? Sjoma, Sjoma, guck doch, wie groß sie geworden ist! Nicht zu fassen! Welche Schuhgröße hast du?“ „34.“ „Unglaublich! Eine Riesin! Es fehlt nicht viel, und du bist eine echte kleine Dame!“

Opa faltete die Zeitung zusammen, legte sie weg und musterte mich schweigend. Sein Gesichtsausdruck war grundsätzlich schwer zu deuten. Da bewegte sich einfach nichts. Aber weil ich ihn schon so lange kannte und inzwischen eine Expertin für ihn war, wusste ich, was das leichte Kräuseln der Oberlippe in Kombination mit dem Zucken der Mundwinkel bedeutete: Er stimmte Omas Beobachtungen zu, konnte sich aber weder für Damen im Allgemeinen noch für erwachsene Enkeltöchter im Besonderen begeistern. Ich setzte mich an den Tisch und sagte: „Könnte ich ein bisschen Baguette haben?“

 

IV

In Paris hatte Oma einen großen Bekanntenkreis. Das überraschte mich nicht: Sie konnte ohne Punkt und Komma reden, und das den ganzen Tag. Sie hatte überall „ihre“ Händler und „ihre“ Kellner, selbst den grummeligen Apotheker redete sie an die Wand. Oma unterhielt sich mit jedem: mit Nachbarn, Concierges, Postboten, Verkäuferinnen, sie wusste genau, wer an welchem Tag Geburtstag hatte und wessen Kinder wie alt waren. Außerdem hatte Oma ganz viele Freundinnen, die ganz weit weg wohnten und mit denen Oma täglich telefonieren musste. Das alles kostete sie wahnsinnig viel Zeit, aber die holte Oma wieder rein, indem sie auf der Straße nicht bloß ging, sondern rannte, und meine Schwester und ich rannten ihr hechelnd hinterher.


Dass Oma einen großen Bekanntenkreis hatte, war also nicht wirklich überraschend. Was ich allerdings etwas seltsam fand, war, dass Oma nicht nur mit Erwachsenen, sondern auch mit Kindern befreundet war. Genau genommen waren das alles kleine Mädchen, sie hatten ungefähr mein Alter, und obwohl ich sie noch nie gesehen hatte, schien Oma viel Zeit mit ihnen zu verbringen. Denn sie wusste eine Menge Geschichten über sie – und wir dann irgendwann auch.


Alle diese Geschichten begannen mit den Worten: „Ich kannte mal ein Mädchen…“.


„Ich kannte mal ein Mädchen“, sagte Oma zum Beispiel, „dieses Mädchen bohrte sich liebend gern in der Nase. Ihre Großmutter flehte sie an, damit aufzuhören, doch das Mädchen tat es einfach nicht.“ Meine Schwester nickte verständnisvoll. Sie hatte grundsätzlich viel Verständnis für Omas kleinen Freundinnen.
„Eines Tages“, erzählte Oma, „da ging dieses Mädchen im Jardin de Tuileries spazieren. Ihr kennt ja Jardin de Tuileries: Dort gibt es viele Schotterwege mit kleinen spitzen Steinchen. Da muss man gut aufpassen.“


Meine Schwester spielte mit den Fransen ihres Rocks, als hätte das nichts mit ihr zu tun. Dabei wussten wir beide, dass sie erst gestern so blöd ausgerutscht war, dass jetzt auf ihren beiden Knien dicke Pflaster klebten. Oma schüttelte betroffen den Kopf: „Das Mädchen ging also spazieren – aber sie konnte gar nicht richtig nach unten gucken, denn sie hatte ja einen Finger in der Nase.“ Oma hielt inne. „Und dann stolperte sie.“
Meine Schwester zuckte zusammen, aber mich überraschte diese Wendung nicht. Ehrlich gesagt hatte ich sie kommen sehen, aber ich hatte auch mehr Lebenserfahrung.


„Das Mädchen stolperte also“, erzählte Oma. „Mit dem Finger in der Nase …“
„… und war tot!“, rutsche es meiner Schwester heraus. Erschrocken presste sie die Hände vor den Mund.
Aber Oma schien es nicht gehört zu haben. „Es ist ja so, Kinder“, erklärte sie mit ihrer Lehrerinnenstimme. „Bei uns Menschen liegen Nase und Gehirn ganz nah beieinander. Sie werden im Kopf nur durch eine hauchdünne Haut getrennt, die normalerweise nichts aushalten muss. Denn sie ist ja nur als Windschutz fürs Gehirn da. Doch als das kleine Mädchen stürzte, hatte sie den Finger in der Nase, also …“
„… war sie sofort tot!“, rief meine Schwester aufgeregt. Ihre Augen glänzten.


„Nein“, sagte Oma. „Nur schwer verletzt.“ Und, mit einem Blick zu mir: „Aber leider konnte sie nach diesem Unfall nie mehr schreiben und lesen.“
„Puh,“ atmete meine Schwester erleichtert auf: „Dann ist ja alles gut!“
Oma lächelte und streichelte ihr über den Kopf. Ich sagte dazu gar nichts, aber ich fand nicht, dass alles gut war. Das hätte auch mir passieren können! Sehr leicht sogar! Und dabei las ich doch so sehr gern! Außerdem wollte ich eines Tages selbst Schriftstellerin werden, und das hätte ich nach diesem Unfall vergessen können. Also nahm ich mir insgeheim vor, nie wieder im Jardin de Tuileries spazieren zu gehen. Denn Karussell hin oder her: Für eine angehende Schriftstellerin war dieser Ort einfach zu gefährlich!

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Das Tagebuch

I

„Gestern war ein anstrengender Tag,“ sagte Oma, und das stimmte. Wir waren auf Montmartre gewesen, und da hatte es Unmengen an Treppen gegeben. Mal ehrlich: Wie kommt man bloß auf die Idee, mitten in der Stadt einen Berg zu bauen? Nicht einmal die Metro schaffte es da hoch, und sie schaffte sonst alles, selbst unter die Seine und bis zum Flughafen.

„Und deswegen machen wir heute einen Ruhetag,“ erklärte Oma. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Wie, einen Ruhetag? Montmartre war doch gestern, und heute war schon heute! Seitdem hatten wir eine ganze Nacht geruht, und überhaupt: Einen Ruhetag in Paris einzulegen war genauso abwegig wie mitten in der Stadt einen Berg zu bauen. Wer tat sowas?

Meine kleine Schwester sah mich erschrocken an. „Wir gehen aber natürlich trotzdem in den Park,“ sagte sie halb feststellend, halb fragend, und ich nickte: „Natürlich! Frische Luft ist gut für dich, Oma. Außerdem müssen wir noch einkaufen.“

„Genau!“, freute sich meine Schwester. „Sonst verhungern wir, und dann kommt Opa nach Hause und schimpft mit uns.“

„Verhungern?“, wunderte sich Oma. „Der Kühlschrank ist voll!“

„Aber Aprikosen sind alle!“, sagte meine Schwester und stopfte sich die letzte Aprikose in den Mund.

„Obst ist wichtig für dich, Oma,“ nickte ich. „Da sind Vitamine drin. Und Zucker.“

Oma seufzte: „Gut, gut, von mir aus. Dann lasst uns später in den Park gehen. Und kurz zu Monoprix. Aber jetzt ruht euch erstmal aus und schreibt an euren Tagebüchern weiter!“

Oha, da sagte sie was. Tagebücher. Inzwischen hingen wir drei Tage hinterher. Eigentlich war eine Seite pro Tag vereinbart gewesen. Aber dann kamen uns die ganzen Museen, Katakomben und jetzt auch noch Montmartre dazwischen. So schnell, wie Oma durch Paris raste, konnte sowieso keiner mitschreiben! Ich erinnerte mich gar nicht mehr so genau, was vor drei Tagen gewesen war. Ich wusste kaum noch, was gestern war!

Wahrscheinlich meinte Oma genau das, wenn sie sagte, dass wir uns später bei ihr bedanken würden. „Man vergisst alles so schnell!“, wiederholte sie ständig mit dieser emotionalen Stimme, von der ihr der Mascara zerlief. „Bald ist Paris für euch nur noch ein ferner Traum, verschwommen und von neuen Erlebnissen überdeckt. Aber eure Tagebücher werden euch für immer daran erinnern. Später, wenn ihr längst zurück in Moskau seid und erwachsen, werdet ihr in euren Tagebüchern blättern und voller Sehnsucht an diese Zeit zurückdenken … “ Oma schluchzte. „Und an Opa und mich …“

Ich schlug mein Tagebuch auf und las meinen letzten Satz durch: „Zu Mittag gab es Bohnen.“ Mannomann. Wie ging es danach weiter? Ich erinnerte mich an nichts. Oma konnte ich nicht mehr fragen, sie war schon wieder in der Küche und klapperte mit ihren Töpfen. Und meine Schwester war eh keine Hilfe. Jetzt zum Beispiel malte sie sich die Schnürsenkel rosa an.

„Komm sofort her!“, sagte ich verärgert und setzte mich an Opas Sekretär. „Lass uns diese Sache hinter uns bringen! Wir werden planvoll vorgehen müssen, denn uns fehlen drei ganze Tage, aber wenn wir es schaffen, sie in einen Eintrag zu packen …“

„Was findest du schöner, Rosa oder Blau?“ Meine Schwester betrachtete verzückt ihre Schuhe. Sie machte mich wahnsinnig! Offenbar war ihr der Ernst der Lage nicht bewusst.

 

II

Ich sah meine kleine Schwester streng an: „Du weißt aber schon, dass Opa heute Abend nach Hause kommt, und dass wir ihm dann aus unseren Tagebüchern vorlesen müssen? Auch du?“

Meine Schwester funkelte mich böse an. Sie hasste es zu schreiben, und lesen mochte sie noch weniger, aber Oma erwartete von uns beides – wahrscheinlich, um Opa zu beeindrucken. Schließlich riss sie sich ein Bein aus, um uns die hintersten Ecken von Paris zu zeigen, und Opa, der tagsüber in der UNESCO festsaß und nichts erlebte, sollte wenigstens dank uns ein bisschen rauskommen.

Jeden Abend vor den Nachrichten musste er sich in seinen sogenannten „bequemen Sessel“ setzen, der aus lauter Metallrohren und Lederlappen geflochten war, und wir lasen ihm aus unseren Tagebüchern vor. Glücklich sah er dabei nicht aus, aber wir waren es ja auch nicht! Trotzdem rissen wir uns alle zusammen, um Oma nicht zu enttäuschen, denn sie freute sich immer so sehr, und sie lachte immer so herrlich. Also taten wir ihr den Gefallen – obwohl, ganz ehrlich, wenn es wirklich darum ging, sich später an Paris zu erinnern: Ein Reiseführer und ein paar Postkarten hätten es auch getan.

Eine Zeit lang war es im Wohnzimmer mucksmäuschenstill. Man hörte nur die Uhr ticken und zwei Stifte übers Papier huschen. Dann klappte meine Schwester ihr Tagebuch zu und verkündete zufrieden: „Fertig!“ Ich schwieg und machte noch ein bisschen weiter: Manchmal überkommt es mich nämlich, und selbst wenn ich meine Pflichtseite längst voll habe, schreibe ich einfach weiter. Das ist wohl diese Inspiration, von der alle reden – und die braucht man auch, um später ein echter Schriftsteller zu werden, denn wenn es nur nach Spaß ginge, würde man immer nur kurze lustige Geschichten schreiben, und es würde nie sowas Dickes und Trauriges zustande kommen wie „Krieg und Frieden“ oder die Bibel.

„Was schreibst du da alles?“, fragte meine Schwester misstrauisch und guckte mir über die Schulter. „Wenn du so viel schreibst, muss ich auch so viel schreiben.“
„Nein, nein,“ beruhigte ich sie. „Das erwartet von dir keiner. Aber lass uns trotzdem vergleichen. Nicht, dass wir etwas vergessen.“
„Wen interessiert’s?“, maulte sie, aber ich ließ nicht locker: „Lass hören! Wie fängt das Ganze bei dir an?“

Meine Schwester rollte mit den Augen: „Du nervst!“ Trotzdem klappte sie ihr Tagebuch auf, hielt es sich ganz nah vors Gesicht, dann ein bisschen weiter weg. „Wir sind gefahren mit dem Bus,“ las sie schließlich. Dann blickte sie zu mir hoch: „Und bei dir?“

Ich blätterte ein paar Seiten zurück und las: „Als wir heute Morgen aufwachten, verriet uns Oma endlich, wohin wir heute fahren würden: In den Louvre! Als ich das hörte, hüpfte ich vor Freude durch die Wohnung, denn Louvre ist mein Lieblingsmuseum.“
„Streberin!“, rief meine Schwester wütend. „Musst du immer so übertreiben? Jetzt denkt Oma, ich bin dumm.“
„Nein, nein“, behauptete ich, wobei ich mir da nicht ganz sicher war.

 

III

„Wir setzen eben unterschiedliche Schwerpunkte,“ erklärte ich. „Und ich bin nun mal die Ältere, daher … Aber sag mal, was hast du über Louvre geschrieben? Das ist jetzt ewig her, ich erinnere mich nur noch an die Nike von Samathrake und die Mona Lisa…“
„Monolisa?“ wunderte sich meine Schwester. „Ist das nicht dieser Supermarkt, wo Oma immer hinwill?“
„Nein,“ sagte ich. „Egal. Lies einfach weiter.“
„Warum?“ Sie ließ sich dramatisch auf die Couch fallen. „Du bist echt fies! Schlimmer als Opa!“
Ich fixierte sie streng: „Lies jetzt!“

„Mann!“ Sie richtete sich widerwillig auf. „Im Museum gab es Bilder,“ las sie stockend, offenbar hatte sie Mühe, ihre Schrift zu entziffern. „Es gab Bilder mit Gesichtern und Bilder mit Blumen. Und Essen. Aber Bilder ohne Gesichter sind langweilig. Gesichter sind immer besser. Und Statuen.“ Sie sah mich fragend an: „Kommt bei dir nach Louvre auch was?“
„Hm.“ Ich blätterte ein paar Seiten vor. „Ja, ich habe ein bisschen über den Park geschrieben und über die Glaspyramide, die sie da bauen wollen, so was eben. Und du?“

„Ich auch.“ Sie fuhr mit dem Finger über die Seite und las: „Ich war im Park. Ich habe bunte Hüllen gefunden. Die blaue Hülle raschelt. Sie ist aus Folie. Die anderen Hüllen sind aus Papier. Ich habe Zigarettenschachteln gefunden. In den Ecken der Schachtel sind Zahlen und Muster. Man sieht das, wenn man den Deckel abreißt. Ich habe fünf Schachteln gefunden. Und acht Korken mit Zacken. Im Park gibt es viele schöne Sachen. Sie liegen einfach auf dem Boden. Man kann sie mitnehmen, und keiner schimpft. Nur Oma, aber sie guckt nicht immer.“

„Nein,“ sagte ich und nahm meiner Schwester das Tagebuch aus der Hand. „Das kannst du so nicht schreiben. Auf keinen Fall. Wir müssen diese Seite schwärzen.“
„Was?“, schrie meine Schwester und riss das Tagebuch an sich. „Du spinnst! Ich habe dafür ewig gebraucht!“
„Ja,“ sagte ich, „und dieser Text ist wirklich toll – dein bester Text überhaupt, ehrlich! Übrigens finde ich es immer noch total unfair, dass du dir das blaue Bonbonpapierchen geschnappt hast, obwohl ich es als erste gesehen habe, aber das ist hier nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass wenn Oma das liest, sie sich wieder aufregt und schlechte Laune bekommt, und dann gehen wir wahrscheinlich nie wieder in den Park …“

Die Augen meiner Schwester weiteten sich: „Auch heute nicht?“
„Nie wieder! Stattdessen gehen wir nur noch in Museen und Schlösser und Kirchen und lernen französische Vokabeln auswendig und lesen Bücher ohne Bilder …“
„Das kann Oma nicht machen!“
„Doch, das kann sie, warte nur ab! Sie denkt eh schon, dass wir von dieser ganzen westlichen Werbung verblödet sind, und das hier,“ ich zeigte auf ihr Tagebuch, „wäre für sie der ultimative Beweis. Außerdem kann Oma in unser Zimmer kommen, und wenn sie unters Bett guckt und unsere Sammlung findet, die ganzen Kronkorken und Zigarettenschachtel und so weiter, dann wirft sie alles weg, weil – du weißt schon …“

Meine Schwester blätterte hektisch in ihrem Tagebuch. „So,“ sagte sie und riss entschlossen eine Seite heraus. „Alles wird gut.“ Sie knüllte sie zusammen. „Oma wird nichts finden.“ Sie stopfte sich die Kugel in den Mund. „Monolisa!“ lachte sie mampfend. „Oma … komischer … Laden!“

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Alle Bilder aus dem Dia-Archiv meiner Großeltern, 1978 bzw. 1985

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